Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
heranbilden, die von der Zerstörung durch Atomwaffen bedroht ist.» [272]
Vom Adel und von der Verantwortung des Schriftstellers in solcher Lage ist sehr weitläufig die Rede, von der Gerechtigkeit, nach der man selbstverständlich «leidenschaftlich» verlangt, von der «Freiheit», die «gefährlich» und «berauschend» ist. Und dann, ganz unvermittelt, spricht Camus von sich selbst:
«Ich habe nie vermocht, auf das Licht zu verzichten, das Glück des Seins, das freie Leben, in dem ich aufgewachsen bin. Aber obwohl manche unter meinen Irrtümern und Fehlern sich aus diesem Sehnen erklären, hat es mir doch unzweifelhaft geholfen, meinen Beruf besser zu erfassen, und hilft mir noch heute, blindlings bei all den schweigenden, über die Welt verstreuten Menschen zu stehen, die das ihnen bereitete Leben nur in der Erinnerung oder der Wiederkehr flüchtiger, freier Augenblicke des Glücks ertragen.» [273]
Inmitten der Festtagsrhetorik ein Augenblick großer Aufrichtigkeit, in dem Camus gesteht, dass er die Komödie, in der er gerade den Nobelpreisträger spielt, nur erträgt, weil er sich an die flüchtigen Augenblicke der wahren Empfindung in seiner Jugend erinnert.
Den berühmten Satz über seine Mutter, die er der Gerechtigkeit vorziehe, sagt er am Donnerstag, dem 12 . Dezember, vor schwedischen Studenten in der Stockholmer Universität. Ein algerischer Student, der, wie sich später herausstellte, eher zufällig in die Veranstaltung geraten war, attackiert den Preisträger und fordert die Unabhängigkeit Algeriens. Camus kommt kaum zu Wort, spricht schließlich von den Bomben, die in Algiers Straßen explodieren, und will sagen, wenn diese Bomben für die Gerechtigkeit stehen sollen, dann ziehe er die Sicherheit seiner Mutter dieser Art von Gerechtigkeit vor. Doch in dem Tumult bleibt seine Botschaft missverständlich, der Korrespondent von
Le Monde
übermittelt sie unverzüglich an die Pariser Redaktion, die wiederum nicht zögert, einen Literaturpreisträger bloßzustellen, der für seine Mutter unzählige algerische Opfer in Kauf nähme. Francine bricht nach dem Treffen mit den Studenten in Tränen aus.
Eine zweite Rede hält Camus am 14 . Dezember in der Universität in Uppsala. Wieder wirbt er für ein Ausgleichsmodell – diesmal nicht Algerien, sondern den zeitgenössischen Roman betreffend. Der möge sich nicht der hermetischen Salonkunst und auch nicht dem sozialistischen Realismus zuwenden; er solle sich weder mit einem Zuviel noch mit einem Zuwenig, sondern mit einer «genauen Dosis an Wirklichem» beschweren; idealerweise solle der Roman von dem sprechen, das alle kennen: «Meer, Regen, Bedürfnis, Verlangen, Kampf gegen den Tod, das sind die Dinge, die uns alle verbinden». [274] In der Geschichte der Romantheorie haben diese Anregungen kaum Spuren hinterlassen.
In Paris bringt Camus den Frack in den Kostümverleih zurück. Schluss mit dem Theater. Im
Fall
hatte er sich das alles von der Seele geschrieben. Jetzt raus aus der Manege, keine Auftritte mehr, keine geflügelten Worte. Soll doch Clamence die Komödie weiterspielen. Camus nicht mehr. Er hat sich lange genug bemüht, «wie alle Leute zu leben, allen Leuten zu gleichen». Das Ergebnis nennt er «eine Katastrophe».
In seiner letzten Rolle ist er ein Verzweifelter, der zu «seinem Stern» [275] zurück möchte. Im April 1959 zieht Camus Bilanz: «Jetzt irre ich durch die Trümmer, ich habe kein Gesetz, ich bin zerrissen, allein und bereit, es zu sein, ich finde mich mit meiner Besonderheit und meinen Unzulänglichkeiten ab. Und ich muss eine neue Wahrheit aufbauen – nachdem ich mein Leben lang in einer Art Lüge gelebt habe». [276] Ihm bleiben noch 251 Tage, um auf seinen Stern zurückzufinden.
10. Kapitel Die Wüste
Ort und Zeit:
Algier 1959 . Lourmarin 1959 . Villeblevin 1960 . Lourmarin 1960 .
Am 30 . September 1958 wird die Erfüllung seines Lebenstraumes so kühl im Tagebuch vermeldet wie seinerzeit der Beginn des Zweiten Weltkriegs: «Das Haus in Lourmarin gekauft. Dann Abfahrt nach Saint-Jean, um Mi zu sehen». [277] Wenige Tage später – Mi ist in ihr Pariser Studentenleben zurückgekehrt – wandelt Camus lange Stunden durch das leere Haus und betrachtet die roten Herbstblätter des wilden Weins, die der Mistral in die offenen Fenster treibt. An seinem 45 . Geburtstag möchte er «mit der Loslösung beginnen». [278]
[Bild vergrößern]
Lourmarin, vorn links Camus’ Haus mit der großen
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