Canale Mortale (German Edition)
violetten Ohrensessel und
machte sich klein. Antonia bekam mehr und mehr den Eindruck, dass die zierliche
Octavia das Möbel brauchte wie eine Schildkröte ihren Panzer. Es entstand eine
kleine Pause. Dann straffte sich Octavia, steckte eine Zigarette in eine
opalfarbene Spitze und räusperte sich.
»Cecilia hat ihn bei Freunden bei einer Abendgesellschaft
kennengelernt. Er war mit der Tochter der Gastgeber verlobt. Aber sie hat es
irgendwie geschafft, Guido für sich einzunehmen und ihn seiner Verlobten
abspenstig zu machen. Und obwohl sie ihn nicht liebte, ließ sie sich von ihm
entjungfern und wurde schwanger. Sie wollte sich damit an meinem Vater rächen.
Er musste der Heirat der beiden wohl oder übel zustimmen. Er hasste Guido vom
ersten Augenblick an und behauptete immer, er habe Cecilia nur des Geldes wegen
genommen.«
»Und die beiden hatten keine Kinder?«
»Diese erste Schwangerschaft endete mit einer Fehlgeburt, danach
hatte Cecilia noch zwei weitere Fehlgeburten. Sie trank immer mehr. Ein Kind
hätte ihr vielleicht über die lieblose Ehe hinweggeholfen, aber es sollte nicht
sein. Sie zog sich zunehmend zurück, und Guido verbrachte seine Zeit meist im
Spielcasino.«
»Und woran ist Ihre Schwester gestorben?«
»An einer Überdosis Schlaftabletten, heruntergespült mit einer
halben Flasche Gin. Guido war spät aus dem Casino gekommen und hatte sich neben
sie zum Schlafen gelegt. Er glaubte, sie sei betrunken wie immer. Am Morgen
wachte er neben einer Toten auf.«
»Das ist ja furchtbar! Und der Conte hat ihm daraufhin das Haus
verboten?«
»Mein Vater war außer sich. Er hat ihn als Mörder beschimpft. Wenn
Guido zu Hause gewesen wäre, so meinte er, hätte er ihren Selbstmord verhindern
können. Vater hat nicht wahrhaben wollen, wie krank Cecilia in Wirklichkeit
war. Mir hat sich Cecilia leider nicht anvertraut. Wir haben das in Hamburg
nicht so mitbekommen, aber sie hätte, wie wir später erfahren haben, dringend
in eine Klinik gemusst. Mein Vater gab allein Guido die Schuld, und danach
durfte er unser Haus nicht mehr betreten.«
Antonia nickte. Dann richtete sie sich auf und kam auf die anonymen
Briefe zu sprechen. Sie fragte Octavia, wie sie ohne den Conte erfahren solle,
was es mit den »7 M « und mit Aram Singer auf
sich hatte.
Octavias Reaktion überraschte sie. »Ich begleite meinen Vater morgen
zu einer Routineuntersuchung. Ich werde die Ärztin ins Vertrauen ziehen und
dann meinen Vater mit den Briefen konfrontieren. Mir ist es aber lieber, die
Ärztin ist in der Nähe, falls es ihn zu sehr aufregt.«
Antonia atmete auf. Sie hatte schon gedacht, Octavia würde ihren
Vater für immer schonen wollen und damit die Chance, Licht in die Zusammenhänge
zu bringen, vereiteln.
Dann zog sie ihren Block heraus und fragte, ob Octavia das Riva dei
Sette Martiri kenne.
»Sie meinen die Promenade im Castello? Da sind wir früher oft mit
den Kindern spazieren gewesen, wenn wir in die Giardini wollten. Man hat einen
so schönen Blick auf San Giorgio –«
»Ja«, unterbrach Antonia sie ungeduldig. »Aber was bedeutet der
Name? Könnte er etwas mit der Unterschrift unter den Briefen zu tun haben?«
Octavia zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Das kann ich mir nicht
vorstellen. Es ist irgendetwas Politisches, es hatte mit den Partisanen zu tun,
glaube ich. Aber Genaues weiß ich nicht. Ich habe mich nie für Geschichte
interessiert. Ich weiß auch kaum etwas über die Geschichte Venedigs, weil ich
fast meine ganze Schulzeit in englischen Internaten war. Aber ich werde meinen
Vater fragen, der müsste es wissen.«
Die Andeutung eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. »Sein
Langzeitgedächtnis ist wohl noch in Ordnung …«
Vom Kirchturm der benachbarten St.-Agnese-Kirche schlug es hell halb
fünf, dann läutete die Glocke von San Trovaso, und bald antwortete die dunkle
Glocke der Gesuati-Kirche, und alle erinnerten Antonia daran, dass sie mit Jana
um fünf Uhr vor der Frari-Kirche verabredet war.
Als Antonia dort eintraf, sah sie Jana und die Schweizer Damen
in angeregter Unterhaltung vor dem Portal stehen. Jana führte die kleine Gruppe
durch das Kirchenschiff bis zu den wenigen Stufen der Apsis.
Mit ausgestrecktem Arm wies sie auf Tizians Gemälde über dem Altar:
Maria, in einem Rot von ungewöhnlicher Intensität, fuhr auf einer Wolke in den
Himmel.
»Sehen Sie, Maria schaut ekstatisch nach oben, Gott entgegen, der
ihr Vater und zugleich ihr Sohn ist. Man sollte meines Erachtens
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