Canale Mortale (German Edition)
bei
Mariendarstellungen nicht vergessen, dass Maria in gewisser Weise Gottes Frau und seine Mutter ist. Tizian zeigt es, indem er einen
Kompromiss bildet und die Figur Gottes mit dunklem Haar und weißem Bart
ausstattet und damit als Sohn und Vater in Personalunion.«
Die Schweizerinnen schauten zu Jana, dann wieder auf das Gemälde und
nickten. Gott, fuhr Jana fort, schwebe in dieser doppelten Funktion genau über
Maria, mit ausgebreiteten Armen und einem dunklen Mantel, mit dem er Maria zu
empfangen trachte.
»Ich finde die Farben überwältigend«, murmelte Antonia.
Jana war jetzt ganz in ihrem Element. »Tizian setzt auf Farben und
Flächen. Seht euch das Licht hinter der Szene an! Maria taucht ein in ein
warmes orangefarbenes Licht. Die unten dagegen sind noch im Erdengrau, aber ein
Abglanz fällt auch auf die Menge, aus der sie emporsteigt!«
Antonia nickte zustimmend. »Es leuchtet wirklich aus der Mitte
heraus. Ganz anders als das düstere Bild von der Verkündigung, das wir gestern
gesehen haben.«
»Hier ist Maria auch keine Jungfrau mehr. Sie ist Frau und Mutter
und vom grauen Erdendasein erlöst. Maria befreit sich mit ihrer Himmelfahrt
sowohl von der Gruppe unter ihr, die bezeichnenderweise nur aus Männern
besteht, wie auch von den um sie herum wimmelnden Kleinkindern in Form von
Putten. Ich lese das Bild also auch feministisch!«
Eine der beiden Schweizer Damen räusperte sich. »Aber oben geht es
doch auch nicht richtig weiter, oder? Sie wirkt irgendwie gefangen.«
Jana zögerte ein wenig. »Nun ja, aber Gottes Gestalt ist längst
nicht so kompakt wie die der Männer unten, von denen sie sich nach oben
hinweghebt«, sagte sie schließlich. »Aber Sie haben recht, nach einer echten
Befreiung sieht es nicht aus.«
Die Schweizer Damen luden Jana und Antonia am Ende der Führung zu einem
Kaffee ein. Antonia verabschiedete sich, um nach Hause zu gehen. Sie wollte
versuchen, im Internet mehr über Aram Singer herauszubekommen.
Als sie am »Già Schiavi« vorbeikam, konnte sie jedoch nicht
widerstehen, einen Blick hineinzuwerfen. Sie drängte sich durch die Touristen
vor dem Eingang und bestellte sich bei Luca einen Martini. Während sie daran
nippte, sah sie ab und an unauffällig zu ihm hinüber. Er hatte alle Hände voll
zu tun, weil sich eine Gruppe skandinavischer Touristen mit Getöse in die kleine
Bar ergoss und Häppchen und Getränke bestellte. Erst als sie ihr Glas zur Theke
zurückbrachte, kreuzten sich für einen Augenblick ihre Blicke. Antonia mochte
das kleine Spiel, das sie beide entwickelt hatten, und verließ lächelnd die
Bar.
Zu ihrer Überraschung war Florian schon zu Hause. Er hatte frische
Pasta und gegrillte Peperoni von der Theke des Supermarkts besorgt und deckte
gerade den Tisch.
»Florian, wie schön, dass heute nur wir beide zusammen essen!«
Florian entkorkte eine Flasche Rotwein und schnupperte daran.
»Nach dem Essen muss ich leider noch etwas die Partitur studieren.
Ich komme an manchen Stellen nicht klar, daher werde ich gleich ein paar
Trockenstudien machen.«
Florian häufte Pasta und gegrilltes Gemüse auf ihre Teller und goss
Wein ein, während Antonia von ihrem Gespräch mit Octavia berichtete und ein
paar Einzelheiten aus der traurigen Ehe von Cecilia Falieri und Guido Massato
zitierte.
»Unglaublich, was es für schreckliche Beziehungen gibt.«
»Doch, das glaube ich sofort. Übrigens: Ich habe mich heute mit
Davide unterhalten. Deine Märtyrer waren keine christlichen, sondern politische
Märtyrer. Die Sette Martiri waren Opfer einer Vergeltungsmaßnahme im Zweiten
Weltkrieg während der deutschen Besatzung von Venedig.«
»Was?« Antonia verschluckte sich fast vor Überraschung.
»Ein Deutscher ist umgekommen, und man hat deshalb als Rache sieben
inhaftierte politische Gefangene erschossen.«
»Das ist ja fürchterlich!«
Antonia hatte nicht gewusst, dass die Nazis auch in Venedig ihren
Terror verbreitet hatten. Der Gedanke daran erschütterte sie.
»Davide meinte, in der Redaktion des ›Gazzettino‹ könne man dir
vielleicht einen Tipp geben. Es gibt da einen Journalisten, der im letzten Jahr
einen Artikel geschrieben und an die Vorfälle erinnert hat.«
Dann erzählte Florian von den Proben. Zwischen einigen der
Teilnehmer gab es Unstimmigkeiten über den Unterricht, und Florian vermutete,
dass der wahre Grund in der Konkurrenz der Künstler lag.
»Alle tun immer so cool. Aber jeder will der Beste sein. Das erzeugt
Spannungen, und alle
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