Canale Mortale (German Edition)
seinen Freunden stand. Sie reckte den Hals und sah an der
Absperrung entlang.
»Wo ist denn Ugo?« Sie stand auf.
»Da unten irgendwo.«
»Ich sehe ihn nicht.« Antonia wurde unruhig.
»Wo soll er sein? Er wird gleich wiederkommen.«
»Wir sind für ihn verantwortlich!«
»Antonia, entspann dich. Er geht doch sonst auch mit Freunden
alleine hierhin.«
»Da ist er ja!«
Antonia ließ sich erleichtert in ihren Sitz fallen, nur um gleich
wieder aufzuspringen.
»Mit wem spricht er denn da?«
Sie sah, wie Ugo bei einem älteren Mann stand, der lebhaft auf ihn
einredete und dabei mit beiden Händen gestikulierte, wobei die linke irgendwie
verkürzt wirkte. Der Mann stand mit dem Rücken zu ihnen, war kahlköpfig und
trug eine rostrote Lederjacke. Er schien Ugo nach seiner Begleitung zu fragen,
denn dieser wies nach oben in Richtung ihrer Sitzplätze. Als er Anstalten
machte, zu seinem Platz zurückzukehren, sah Antonia, wie der Mann ihn noch
einmal kurz zurückhielt und ihm dann folgte. Auf der Höhe ihrer Reihe schaute
er zu ihr und Florian herüber. Er kam ihr irgendwie bekannt vor. Die ganze
zweite Halbzeit lang versuchte sie sich zu erinnern. Vergebens. In Venedig sah
man wegen der Besuchermassen tagtäglich so viele Menschen, dass man leicht ein
einzelnes Gesicht vergessen konnte.
Fünf Minuten vor Schluss, gerade als ein ohrenbetäubender Lärm
einsetzte, weil die Leoni doch noch ein Tor geschossen hatten, fiel es ihr
plötzlich wieder ein. Das war der Mann, den sie mit Guido in der Kaffeebar
gesehen hatte. Inmitten der johlenden Menge holte sie ihr Handy heraus und
suchte das Foto, das sie vor ein paar Tagen gemacht hatte. Vor der Wand mit den
vielen Fußballplakaten saßen Guido und dieser Mann, mit dem Ugo gerade
gesprochen hatte.
Als Ugo sich auf der Rückfahrt im Linienboot zwischen sie und
Florian setzte, fragte Antonia den Jungen beiläufig: »Wer war denn das, mit dem
du im Stadion gesprochen hast?«
Ugo zuckte mit den Schultern. »Ich hab ihn schon öfter hier beim
Spiel gesehen. Er taucht immer mal wieder auf und spricht mit mir. Er heißt
Marcello und hat mal gesagt, dass er ein Bekannter von Onkel Guido ist. Und
weil ich so ein treuer Fan bin, hat er mir heute einen Ball versprochen, mit
den Unterschriften der Leoni. Ist das nicht cool?«
Antonia war beunruhigt. »Du wirst ihn beim nächsten Mal aber nur in
Begleitung treffen, oder?«
Ugo sah sie erstaunt von der Seite an. »Warum? Ich gehe doch immer
allein oder mit einem Freund zum Fußball. Ich kann schon auf mich aufpassen.
Ich werde bald fünfzehn. Ich glaube nicht, dass er ein Pädophiler ist, wenn du
das meinst. So ist er nicht drauf. Er ist Fan, wie ich. Wir halten hier alle
ziemlich zusammen.«
Dann schloss Ugo sich den Schlachtrufen der venezianischen
Fangemeinde an, die trotz der Niederlage ihre Mannschaft feierte, und war von
da an nicht mehr ansprechbar.
Vielleicht war der Mann tatsächlich nur ein harmloser Bekannter von
Guido und deshalb freundlich an dessen Neffen interessiert. Zärtlich sah
Antonia zu Ugo hinüber. Er war ihr in der kurzen Zeit ans Herz gewachsen, weil
er im Gegensatz zu seiner Mutter und seiner Schwester ein ausgeglichenes
Temperament hatte und trotz seiner Jugend oft reifer wirkte als die beiden
nervösen Frauen. Obwohl seine Mannschaft verloren hatte, war Ugo guter Dinge.
Er bedankte sich bei Florian überschwänglich für die Einladung, und Florian,
angesteckt von seiner Begeisterung, lud ihn zum Rückspiel nach Triest ein.
8
Am Sonntagmorgen brach Antonia früh auf, um Rita Welsch am
Flughafen abzuholen. Bevor sie das Haus verließ, suchte sie Giovanna in der
Küche auf und fragte, wer gestern den Brief abgegeben habe.
Giovanna beschrieb einen bleichen jungen Mann, der sehr schlecht
gekleidet gewesen sei. Dann machte sie eine wichtige Miene und setzte zu einem
längeren Vortrag über die Gefährdung der heutigen Jugend durch Drogen an.
Antonia rechnete sich aus, dass der Bote für ein paar Euro gedungen worden war,
und unterbrach den Redestrom der Köchin.
»Ich muss los, Giovanna, eine amica am Flughafen abholen!«
Vor der Haustür begegnete sie einer eleganten alten Dame, die,
vollständig in schwarze Seide gekleidet, ein Gebetbuch aus ihrer Tasche zog. Es
handelte sich wohl um Tante Alba, die Schwester des Conte. Mit der Rechten
stützte sie sich auf den silbernen Knauf eines Stocks, aber ansonsten wirkte
sie sehr behände. Antonia rief ihr ein »Buon Giorno« zu, aber der weißhaarige
Kopf
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