Canale Mussolini
und dem Getöse um diese Nachtzeit war Littoria jedenfalls nicht schön, noch nicht. Schlamm überall und weißer Schiefer – es lag am Anfang der Quartärdüne –, das war kein Erdreich wie bei uns am Canale Mussolini, dunkelschwarze bis rötliche Erde, wegen der Sedimente, die der Teppia, der Fiume Antico und der Fosso di Cisterna im Lauf der Jahrtausende herangeführt hatten. Auf die Erde unseres Podere 517 konnte es regnen, es konnte so viel Wasser fallen, wie es wollte; je mehr der Himmel schickte, umso mehr schluckte diese Erde, und wenn es tagelang geschüttet hatte – eine halbe Stunde später konnten wir mit unseren Rindern darübergehen und sie der Länge und der Breite nach pflügen. Hier in der Umgebung von Littoria dagegen, in nur zehn Kilometern Entfernung, war alles ganz schiefrig, und es brauchte nur ein Tropfen Wasser zu fallen, und man konnte eine Woche lang mit den Tieren nicht aufs Feld, auch mit Traktoren nicht. Das Wasser blieb ganz an der Oberfläche stehen, es sickerte nicht ein, es tränkte die oberen Schichten, und die Mikrokristalle des Kaolinschiefers – echte Kreide – klebten schmierig überall an der Haut, und man bekam sie nicht mehr weg; und je mehr Wasser fiel, desto mehr wuchs diese Schlickschicht an, bis sich dann Morast und Wanderdünen bildeten, und an dieser Stelle baute nun der Fascio – oder genauer die ONC – eine Stadt.
Uns hatte man gesagt, sie würde Mitte Dezember fertig und eingeweiht sein. Meine Onkel besahen sich aber die Baustellen: Ja, in fast allen Gebäuden waren die Wände schon bis in den zweiten Stock hochgezogen, und einige Gebäude waren auch bereits gedeckt, aber in den meisten Fällen mussten erst noch die Dachböden eingezogen, Dächer errichtet und die Feinarbeiten gemacht werden, verputzt, Fenster eingesetzt usw. Da waren nur die nackten Mauern mit den Baugerüsten daran. Und auf der Piazza sah es aus! Wo heute die Piazza del Popolo ist, herrschte ein infernalisches Chaos, wie ein Dante’scher Höllenkreis, im Schlamm einmal durchkreuzt von den Geleisen der Feldbahn, einige Waggons auf die Seite gekippt, und direkt hinter dem Rathaus – also dort, wo das Rathaus gebaut wurde – waren die Lokschuppen, und auch hier immer wieder umgekippte Waggons und Loren am Boden, in der Erwartung, dass sie am nächsten Tag jemand reparierte. Und meine Onkel sagten sich: »Aber wie wollen die bloß bis Dezember fertig werden?«
Dann aber – und das gefiel ihnen – kehrten sie um, schlenderten zwischen der alten Krankenstation und der im Bau befindlichen Milizkaserne herum, sie waren ungefähr dort, wo jetzt die Piazza Roma ist, hinter dem im Bau befindlichen Rathaus und der alten Halle des Konsortiums, die jetzt als Reparaturwerkstatt und Abstellschuppen für die Feldbahn diente. Zu beiden Seiten der Straße zog sich eine endlose Kette von Buden und Baracken hin, wo Wein verkauft wurde. Zehntausende Arbeiter waren da zugange, alles Männer, die nach zehn oder auch zwölf Stunden Arbeit am Tag und bei Nacht doch irgendwohin gehen mussten, um etwas von dem verdienten Geld auszugeben. In einigen Baracken gab es auch käufliche Frauen, aber da musste man Schlange stehen. Improvisierte Tische und Bänke überall, zusammengebaut aus Hölzern und Planken von den Baustellen, Petroleumlampen über den Gruppen von Betrunkenen – die sie schon gehört hatten, bevor sie nach Littoria hineinkamen –, die »Angiolina, bella Angiolina« sangen oder auch »Ta-pum«:
Im Tal, da ist ein Friedhof,
Friedhof für uns Soldaten.
Ta-pum, ta-pum, ta-pum.
Ta-pum, ta-pum, ta-pum.
Friedhof für uns Soldaten,
vielleicht komm ich dich eines Tags besuchen.
Ta-pum, ta-pum, ta-pum.
Ta-pum, ta-pum, ta-pum.
Und morgen geht’s zum Angriff,
kleiner Soldat, lass dich nicht töten.
Ta-pum, ta-pum, ta-pum.
Ta-pum, ta-pum, ta-pum.
Auch meine Onkel machten an einem solchen Ausschank halt. Sie lehnten die Fahrräder irgendwo in der Nähe an, bestellten einen Liter Wein und setzten sich auf eine Bank, während die, die dort schon saßen, etwas zusammenrückten, um ihnen Platz zu machen. Onkel Pericle und Onkel Iseo hätten fast Lust gehabt, in das Lied »Ta-pum« mit einzustimmen. »Habt ihr denn nicht genug gesungen, vor und in diesem Zug?«, hänselte Onkel Adelchi sie.
Menschen aus sämtlichen Städten und Regionen Italiens waren hier versammelt. Die Armen aus aller Welt gaben sich hier ein Stelldichein, könnte man sagen. Kalabresen, Sizilianer, Toskaner, Piemontesen, Sarden,
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