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Canale Mussolini

Canale Mussolini

Titel: Canale Mussolini Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pennacchi Antonio
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Wenn er sie an diesem Punkt in Ruhe gelassen hätte und weiter gemacht hätte, was er wollte, aber nur mit den Freiwilligen, hätte es damit vielleicht sein Bewenden gehabt. Aber nein, meine Herrschaften, er schickte ihnen seine Soldaten hinterher dort hinauf in die Berge, ließ sie an die Wand stellen und erschießen. »Deserteure!«, wenn sie nicht sofort mit hinunterkamen und mit ihm und den Deutschen kämpften. Da sagten sich die: »O nein, jetzt reicht’s aber wirklich«, und fingen an zurückzuschießen – Widerstand zu leisten, Resistenza –, und der Bürgerkrieg begann. Dann, wie man weiß, schießt du, schieß ich, und die Situation entartet immer mehr, dazu die deutschen Freunde, die anfingen, Massaker anzurichten und Dörfer niederzubrennen, die den anderen Unterschlupf gewährten. Und wenn der Kreislauf der Rache zu Ende ist, was dann? Bürgerkrieg ist so: Blutdurst, Blut für Blut. Und schuld ist allein das Gesetz Graziani. Wie konntest du auf die Idee kommen – nach all dem, was du mich hast durchmachen lassen –, mich noch einmal zwangsweise einzuziehen und mich um jeden Preis dort oben in den Bergen aufzuspüren und zu erschießen?
    Tatsache ist jedenfalls, dass Onkel Temistocle an jenem Morgen in den ersten Novembertagen 1943, nachdem er mit Armida gesprochen hatte, in Littoria beim Fascio aufkreuzte und den Erstbesten, auf den er traf, bat: »Lasst meinen Sohn einrücken.«
    »Sehr gut, Peruzzi!«, sagten die zu ihm. »So gehört sich das. Wären nur alle wie ihr Peruzzi.«
    Er nahm sein Fahrrad und fuhr zurück nach Hause.
    Seine Frau war auf der Tenne – beim Wassertrog – und bereitete irgendeinen Futterbrei für die Schweine zu. Sie sah ihn an und sagte: »Er ist im Stall.«
    Er ging hin. Mit dem Striegel in der Hand bürstete der Sohn eine Kuh. Als er ihn sah, hörte er auf damit, erkannte die Einberufungskarte an der Farbe und fragte: »Wann muss ich los?«
    »Morgen.«
    Da trat er näher, nahm die Karte und las den Bestimmungsort. Dann hob er zum ersten Mal seit über einem Monat den Blick und sah seinem Vater in die Augen: »Papa …«, sagte er nur.
    »Junge …«, antwortete Onkel Temistocle und umarmte ihn. Und damit basta, mehr haben sie sich nicht gesagt. Paride ging sich waschen und seine Sachen zusammenpacken und dann zum Podere 517, um sich von Großmutter zu verabschieden, von Großvater und allen anderen Verwandten. »Sie haben mich eingezogen.«
    »Pass auf dich auf, Junge«, sagte Großmutter.
    »Wenigstens müssen wir keinen Fisch mehr essen«, sagten meine Vettern.
    »Aber hättest du nicht wirklich lernen können, Würste zu angeln?«, sagte Großvater noch einmal und steckte ihm etwas Geld zu.
    »Aber nicht doch, Großvater, Ihr sollt mir kein Geld geben.«
    »Nimm es, Junge, bist doch immer noch ein Kind.«
    Im Podere 516 von Onkel Temistocle stopften ihm unterdessen seine Mutter und Armida die Wollsachen und die Strümpfe, mit langen Zangen holten sie die Glut aus dem Feuer, taten sie ins Bügeleisen und bügelten ihm Jacke, Hemd und Taschentücher. Das waren schließlich keine Papiertaschentücher damals: »Liebster, gib mir dies Taschentuch«, sangen meine Tanten, »ich gehe zum Fluss und wasche es.«
    Abends, nach ein bisschen filò mit allen Fremden und Verwandten Peruzzi vom Podere 517, die gekommen waren, um sich von Paride, der fortging, zu verabschieden – und als alle endlich anfingen, wie man sagt, das Feld zu räumen –, nahm Tante Clelia den kleinen Menego auf den Arm und sagte zu Armida: »Geht ein bisschen raus, ihr zwei, ich bring dir die Kinder ins Bett«, und Paride und Armida kehrten noch einmal zurück zum Canale Mussolini, diesmal allerdings ohne Lampe und ohne Netz.
    Es war etwas kalt mittlerweile, es war November. Sie hatten Wolljacken und Mäntel an. Auf dem Weg durch unsere Felder gingen sie in der Mitte der Straße, auf der Grasnarbe, um sich die Schuhe nicht in den schlammigen Karrenspuren schmutzig zu machen. Am Kanal sah man die Pflasterung des Kanalbetts nicht mehr, das erste Hochwasser füllte es ganz, und im Mondlicht lief das Wasser auf der ganzen Breite mit schneller Strömung dahin. Auch der Lärm des Wasserfalls, der nun ganz überspült war, war nur noch ein leises Rauschen. Sie saßen oben auf dem Uferdamm auf einem Stein unter einem Eukalyptusbaum. Weiter unten hatte stärkeres Hochwasser die kleine Hütte fortgespült. Da steckten nur noch – schief und von der Strömung geknickt – die letzten Zweige des Laubdachs im Damm.

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