Canale Mussolini
spielen, in der Schänke ein Viertel Wein zu trinken und vor allem zu sehen, ob er nicht einen Blick in den oberen Stock werfen konnte, auf diesen berühmten blonden Teufel, der aus dem Fenster hängend mit den Füßen gestrampelt hatte, am Abend, an dem unser pagliaio in Flammen aufgegangen war und wir unser Gegenfeuer gelegt hatten. Aber die ließ sich nicht blicken. Ja, die seltenen Male, die sie ihn sah, spuckte sie vor ihm aus und sagte: »Mörder.«
Alles ruhig also, es gab ein bisschen parlamentarische Opposition, aber im Übrigen war alles ruhig. »Mussolini ist an der Arbeit«, hieß es im »Popolo d’Italia«.
Nun war da aber in einem Ort in der Nähe, nach Comacchio zu, ein Pfarrer, der überhaupt keine Ruhe gab. Sie erinnern sich an den aus Cavarzere, nicht wahr? Nun, der hier war zehn Mal so aktiv wie der. Er war als Kaplan im Krieg gewesen, und einmal, als seine Einheit den Deutschen zu unterliegen drohte – genau auf dem Weg nach Caporetto –, hatte er sich mehr als Italiener denn als Pfarrer gefühlt, Soldat unter Soldaten und Italiener unter Italienern; also legte er das Kruzifix beiseite und übernahm das Maschinengewehr, an dem der Schütze gerade gefallen war, und schoss im Stehen mit diesem Maschinengewehr unter dem Arm. Als sie ihn sahen, schöpften seine Soldaten auch wieder Mut und verteidigten sich, und er wurde für Tapferkeit vor dem Feind ausgezeichnet.
Wie sagen Sie? Ein Priester sollte nicht schießen? Ach, das sagt man heute so, und jedenfalls scheint es mir keinen so großen Unterschied zu machen, ob einer selber schießt oder denen, die an seiner Stelle schießen, den Segen erteilt. Das sind Heucheleien der Moderne. Wir werden immer raffinierter mit der Zeit. Damals war das noch nicht so. Der Priester segnete, solange das Segnen reichte; wenn der Segen nicht mehr ausreichte, schoss er auch selbst. Und nicht nur dieser Pfarrer hier, alle anderen in allen anderen Ländern auch. Im Grunde war es ja noch gar nicht so lang her, dass der Papst seine eigenen Truppen hatte und mit seinen Kanonen und Gewehren in eigener Sache schoss und tötete. Schließlich hat nicht nur Julius II . die Rüstung angelegt. Auch Pius IX. : »Monti und Tognetti«, wie mein Großvater sagte. Sicher ist es gut und richtig, dass die Katholiken heutzutage von Gewaltfreiheit reden. Und diese Gewaltfreiheit mag es auch geben – das leugne ich ja nicht –, aber das sind Dinge von heute, denn noch 1969 an der Piazza Fontana habe ich ganz den Eindruck, als hätte es sie nicht gegeben.
Dieser Pfarrer von Comacchio war jedenfalls zehn Mal so rührig wie der von Cavarzere. Den Pfarrsaal hatte er tatsächlich eingerichtet, und er ließ die Kinder dort nicht nur spielen, sondern ließ sie auch was lernen: Abendkurse und eine Handwerksausbildung. Er brachte ihnen das Tischlern und Schreinern bei, denn es gab dort Werften, wo Schiffe und Fischerbote gebaut wurden und früher auch die Wassermühlen, die dann auf dem Po lagen. In einer Hütte hatte er auch eine Kinoleinwand hochgezogen, es war das Jahr 1923, Stummfilme, mit dem Organisten aus der Kirche, der auf dem Harmonium die Musik dazu spielte. Und er machte Politik. Er hatte eine Weiße Liga für gegenseitige Hilfe organisiert, und in seinen Predigten redete er schlecht über den Faschismus und die Regierung. Er wollte die Freiheit und sagte, der Faschismus unterdrücke sie, und nur um nicht mit dem Faschismus gemeinsame Sache zu machen, hielt er sich lieber an die Roten. Er war immer mit Sozialisten beisammen. Schon allein diese Tatsache genügte, um die Schwarzen zu verärgern, denn wenn man in den umliegenden Dörfern davon hörte, dann sagten die Leute womöglich noch: »Aber wenn die in Comacchio das geschafft haben, dass der Pfarrer und die Roten zusammengehen, warum machen wir das hier nicht auch?«, und dann war es für uns aus und vorbei.
Das sprach sich allmählich im ganzen Ferrareser Gebiet herum. Jeden Sonntag – zu Mittag im Hochamt, wo alle bessergestellten Herrschaften, Beamte und Rechtsanwälte hingingen – stellte er sich auf die Kanzel und sagte immer wieder, die größte Gefahr sei der gewaltsame Angriff auf die Freiheit, nicht die Forderungen des Proletariats, das ja schließlich seine sakrosankten Rechte habe. Im Grunde sagte das ja auch unser Herrgott, also sollten unsere Herrschaften gefälligst mit sich ins Gewissen gehen und dem Volk seine Rechte zugestehen und gemeinsam Front machen gegen diejenigen, die die Freiheit aller bedrohten,
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