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Canale Mussolini

Canale Mussolini

Titel: Canale Mussolini Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pennacchi Antonio
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einholte, um sie nach Hause zu bringen. »Aber was habt ihr denn da angestellt?« Diesmal war er entsetzt, und der Ton war eindeutig vorwurfsvoll.
    »Halt den Mund, sonst bring ich dich auch um«, sagte Onkel Pericle.
    Sie stiegen wieder aufs Motorrad, und er ließ sich nach Hause bringen. Und wartete, dass die Carabinieri kämen.
    Im Prozess wollte man die Namen der Auftraggeber wissen und die Bestätigung, dass es sich um ein politisches Verbrechen handelte. Er aber sagte: »Was denn für Auftraggeber, was denn politisch? Es war nur eine Frage von Weibern, Herr Richter«, und die Menge hinten im Gerichtssaal hätte ihn am liebsten gelyncht. Ich sage Ihnen nicht, was für ein Gezeter und Geschrei. Die gesamte Azione Cattolica war anwesend, und der Richter ließ den Saal räumen. Vor dem Gericht – unter den Laubengängen an der Piazza – war alles voller Faschisten in Milizuniform.
    »Ihm gefielen die Frauen, dem Pfaffen«, beharrte Onkel Pericle auf seiner Version, um Balbo und Rossoni zu decken, und er wurde zu einer schweren Strafe verurteilt, dreißig Jahre oder so was. Die aber ließen ihn wissen, er solle sich keine Sorgen machen, und drei Jahre später – 1926, da war schon Diktatur mit Sondergesetzgebung, und es gab keine Opposition mehr in Italien, oder nur erlaubte Opposition – wurde ihm noch einmal der Prozess gemacht. Er bekam fahrlässige Tötung – oder Körperverletzung –, nur fünf oder sechs Jahre. Den Großteil hatte er schon abgesessen, und der Rest wurde zur Bewährung ausgesetzt.
    Als er nach Haus kam, waren wir schon nicht mehr in Codigoro. Großmutter wachte immer wieder nachts auf, wegen einem schwarzen Mantel – »ganz, ganz schwarz« –, der ihr den Atem raubte, sagte sie. Sondern wir waren in Ca’ Bragadin – beim Grafen Zorzi Vila –, und es schien uns, wir wären im Paradies. Ohne zu wissen, dass gerade das unsere Hölle sein würde, das Ende für unser Vieh. Für unseren mageren Besitz.
    Aber deswegen – wegen diesem Priester, der auf der Straße von Comacchio nach Lagosanto, gleich hinter dem Dorf, im schwachen Schein eines Sommermonds zu meinem Onkel gesagt hatte: »Aber ich habe das doch für Euch gesagt« – konnten Onkel Pericle und Onkel Temistocle es sich erlauben, in Rom am Palazzo Venezia aufzukreuzen und zu sagen: »Wir wollen mit Rossoni sprechen.«
    Da hat unsere Geschichte ihren Anfang genommen. Gezwungen, in den Agro Pontino auszuwandern, nackt wie die Würmer, um dort mit unserer ganzen Peruzzi-Sippe und denen, die noch kommen würden, noch einmal von vorn anzufangen
    Deshalb sind wir hierhergekommen: weil man uns verjagt hat. Quote 90 und Graf Zorzi Vila. Sonst wären wir dortgeblieben. Und wir sind hierhergekommen wegen einem Priester. Einem schwarzen Mantel. Und letztendlich wegen einem Pferd. Diesem Pferd von Copparo.

II
    E s war ein Exodus. Im Lauf von drei Jahren wurden dreißigtausend Menschen aus dem Norden hier heruntergeschafft – zehntausend pro Jahr. Aus Venetien, dem Friaul und dem Ferraresischen. Aufs Geratewohl unter fremde Menschen versetzt, die eine andere Sprache sprachen. »Polentafresser« nannten sie uns, oder noch schlimmer »Cispadanier«. Sie schauten uns schief an. Und beteten zu Gott, dass die Malaria uns dahinraffen möge.
    Es war ein Exodus, und als wir ankamen, war die Piscinara schon trockengelegt. Völlig glatt und leergefegt wie ein Billardtisch. Am Horizont kein einziger Baum mehr von all den Wäldern und Gehölzen, die es laut Onkel Pericle früher hier gegeben hatte und worin es von Tieren wimmelte, von Mördern und Briganten, die aus ihren Dörfern oben auf den Bergen geflohen waren. Kein Tropfen Wasser mehr, kein Grashalm, und wir kamen zu dreißigtausend hierher, um wie wehrlose Spielkegel dieses Billardtuch zu bevölkern, eine vollkommen trockene, endlose Leere und jungfräulicher Boden. Es sah aus wie die Wüste, und sobald die Großmutter der Toson – mit denen zusammen wir die Reise gemacht hatten und die auch heute noch zwei Parzellen weiter von uns wohnen – vom Lastwagen stieg, sagte sie genau das: »Aber das ist ja die Wüste hier«, und fing an zu weinen und zu schreien.
    Die Toson kamen aus Zero Branco, einem Ort auf halber Strecke zwischen Venedig und Treviso; völlig flach alles auch dort, wie bei uns in der Polesine, und die nächsten Berge in etwa hundert Kilometern Entfernung. Aber der Horizont nicht, der Horizont war keine endlose Leere. In Zero Branco gab es Bäume, Bäume überall an Äckern und

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