Canale Mussolini
Feldrainen: Ulmen, Akazien, Pappeln und riesige Eschen säumten Straßen und Kanäle. Und dann Kirchtürme. Jedes Dorf hatte seinen eigenen – auch benachbarte Dörfer in nur wenigen Kilometern Entfernung voneinander –, und jeder versuchte, den seinen höher zu bauen. Das war ein unentwegter Wettstreit, und gelegentlich stürzte einer ein – vor lauter Streben nach dem Allerhöchsten –, jedes Jahr noch einen Meter höher, um nicht hinter dem Nachbardorf zurückzustehen. Und jeder war stolz auf seinen Kirchturm, und die in Zero Branco waren noch stolzer als die anderen, denn sie hatten den ihren erst kürzlich von Grund auf neu erbaut, und er war – und ist – der höchste Kirchturm in der ganzen Umgebung. Großmutter Toson hatte das im Zug auch allen erzählt, die aus den andern Waggons zum Plaudern herbeikamen: »Wir sind aus Zero Branco, dem Dorf mit dem höchsten Kirchturm, kennen Sie es?« Es war eine Wohltat, wenn man auf dem Feld – in der glühenden Sonne Rüben stechen – den Glockenschlag hörte, alle sich aufrichteten, sich den Schweiß von der Stirn wischten und zum Kirchturm aufblickten. Er diente nicht nur als Orientierungspunkt – was inmitten dieser grenzenlosen Poebene ja schon wichtig genug ist –, sondern er war auch Ankerpunkt für die Seele, denn dank ihm wusste man, dass man nicht allein war in dieser Ebene, dass im Notfall seine Glocken läuten und alle zusammenlaufen würden, um einem und sich zu helfen.
Aber Großmutter Toson – schon von der Ladefläche des Lastwagens aus, mit dem vom Bahnhof Littoria Scalo aus jeder von uns zu seinem Anwesen gebracht wurde, hatte sie, zwei Kinder auf dem Arm und eingeklemmt zwischen Wäschesäcken, Möbeln und Werkzeug, immer wieder versucht, auf die Straße hinauszuspähen, war schon bleich geworden und hatte es nicht glauben wollen, dass das Wirklichkeit war: »Man wird mich doch nicht hierlassen« –, als Großmutter Toson dann an der Reihe war, vom Lastwagen abzusteigen, sah sie sich nur einen Augenblick lang um, gerade so lang, um in etwa fünfzehn Kilometern Entfernung in Richtung Osten die Berge zu erkennen, ein blauer Strich, aber bedrohlich, weil zwischen hier und dort nichts war, kein Baum, nichts, alles kahl von hier bis über den Horizont hinaus: die absolute Leere. Bloß dieser blaue Strich im Osten – die Berge –, und dann der Uferdamm des Canale Mussolini. Ein Damm, ja, aber nackt – aufgeworfenes Erdreich ohne einen einzigen Grashalm –, kein Damm, sondern ein Grabhügel, ein frisches Grab, sogar ohne Kreuz. Und in der Ebene blaue Häuschen, blau wie die Berge, aber leer, ohne Leben, ohne jemanden darin, ohne einen Baum daneben; über die Ebene verstreut, eins hier, eins da, leer, und die ganze Fläche aus Schlamm, aufgeschüttete Erde ohne einen Hauch von Grün, ohne ein Hälmchen Knoblauch oder Unkraut; eine Wüste, eine Schlammwüste.
»Wo habt ihr mich hingebracht!«, fing Großmutter Toson an zu zetern wie eine Wahnsinnige. »Bringt mich wieder zurück!«, und sie wollte wieder auf den Lastwagen steigen. Sie verfluchte sich selbst, jemals abgestiegen zu sein, und klammerte sich an die Seitenklappen, das Gesicht tränenüberströmt, während die Kinder, mit tränenüberströmtem Gesicht auch sie, ihr die Hände von den Klappen des Lastwagens zerrten.
»Bringt mich zurück nach Zero Branco«, weinte Großmutter Toson. Und an sie geklammert weinten auch all ihre Enkel: »Oma, Oma!«, und zogen an ihren Röcken.
Doch nicht alles war so wie die trockengelegte Piscinara, und als wir ankamen, war der Prozess der Urbarmachung noch nicht abgeschlossen. Sie stand erst am Anfang, auch wenn wir das nicht wussten. Sie hatten erst von Cisterna bis zur Quartärdüne trockengelegt – dort, wo heute Latina ist –, aber von dort bis zum Meer war noch alles dass Gott erbarm. Das waren die eigentlichen Pontinischen Sümpfe, von denen Onkel Pericle erzählt hatte, eine Hölle, die bis vor wenigen Jahren von den Toren Roms bis nach Terracina gereicht hatte; mehr als siebenhundert Quadratkilometer Sumpfgebiet, Morast, undurchdringliche Wälder mit über zwei Meter langen Schlangen und Schwärmen von Anophelesmücken, und wehe dem, der sich da hineinbegab. Wenn er nicht im Fließsand versank, dann hängten ihm die Mücken die Malaria an, und er war bedient.
Schon die Römer hatten versucht, diese Sümpfe trockenzulegen, und vor ihnen die alten Latiner, später auch die Päpste und Leonardo da Vinci, Napoleon, Garibaldi; aber immer
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