Candy
beobachtete die Wolken.
Ich saß auch noch eine halbe Stunde später dort, als ich jemand den Weg herabkommen sah. Der bloße Anblick eines anderen menschlichen Wesens – die Bewegung, die Farben, das Fleischliche eines Gesichts – jagte mir einen Adrenalinstoß durch den Körper und einen Panikschub durchs Hirn.
Wer? Wie? Was tu ich? Weglaufen? Mich verstecken? Rufen? Was?
Aber noch bevor ich auf die Füße kam, kapierte ich, dass nichts zu befürchten war. Es war nur ein alter Mann, der langsam und allein den Weg herunterkam. Keine Gefahr, keine Panik, keine Sorgen. Das Adrenalin legte sich mir auf den Magen. Ich fing wieder an zu atmen.
Als der alte Mann näher kam, erkannte ich, dass es Mr Butt war – der Dorfbewohner, den Dad dafür bezahlte, ein Auge auf unser Cottage zu haben –, und mein Adrenalinpegel stieg wieder an. Ich versuchte mich zu beruhigen –
kein Grund zur Sorge … das ist euer Cottage … du brauchst seine Erlaubnis nicht, um hier zu sein
– |339| , aber es half nichts. Wenn ich allein gewesen wäre, hätte es tatsächlich keinen Grund zur Sorge gegeben, aber ich war nicht allein, oder? Ich war mit Candy hier und sie lag im Bett …
Was die Dinge schwierig machte.
Mr Butt war jetzt ungefähr zwanzig Meter entfernt. Ich hatte ihn lange nicht mehr gesehen und ich war nicht sicher, ob er mich wiedererkennen würde, deshalb nahm ich die Mütze ab und stand auf, um ihn zu begrüßen. Ich weiß nicht, warum ich glaubte, das würde helfen, aber ich tat es jedenfalls.
»Morgen, Mr Butt«, rief ich. »Das bin nur ich – Joe Beck.«
Er blieb einen Moment stehen, beugte sich vor und blinzelte mir entgegen, dann hob er die Hand und kam auf die Veranda. Soweit ich erkennen konnte, hatte er seine Kleidung seit dem letzten Mal, als ich ihn traf, nicht gewechselt – und ich konnte immer noch nicht so richtig sagen, woraus sie bestand. Irgendein jackenartiges Ding, darüber eine braune Außenschicht, die vielleicht mal ein Mantel gewesen war, und dazu eine formlose braune Mütze.
»Wer?«, fragte er.
»Joe Beck«, wiederholte ich, »Dr. Becks Sohn … Joe. Erinnern Sie sich an mich?«
Er blinzelte wieder. »Joe …?«
»Ginas Bruder. Ich bin früher immer mit Mum und Dad hier gewesen.«
»Joe Beck?«
»Genau. Ich bin nur ein paar Tage hier. Hat Ihnen Dad nicht Bescheid gesagt?«
»Nein, nicht dass ich wüsste …« Er schnäuzte die Nase und sah mich an. »Du bist also der kleine Joe?«
|340| »Ja, ich wohn ein paar Tage hier. Prüfungen … ich muss ein bisschen lernen, verstehen Sie … für die Prüfungen.«
»Ah … verstehe. Na …« Er schaute sich um. »Ist genug Holz da?«
»Reichlich, danke.«
»Ist reichlich da.« Er nickte in Richtung Holzschuppen. »Hab ’ne Menge gehackt nach dem Sturm vor ein paar Wochen. Is’ jetzt fast trocken.«
»Ja, danke.«
»Na gut … also … ich geh dann mal besser wieder zurück.« Er blickte über die Schulter, rührte sich aber nicht. Wahrscheinlich wartete er darauf, dass ich ihm eine Tasse Tee oder irgendwas anderes anbot. Er schaute wieder zu mir, nickte mit dem Kopf und ich war sicher, dass er gleich gehen würde, doch dann hörte ich hinter mir eine Stimme –
»Joe?«
– und als ich mich umdrehte, stand Candy in der Tür. Ihr Haar war verheddert, ihre Gesichtshaut rot und ihr Nachthemd flatterte im Wind.
»Was machst –?«, hob sie gerade an, aber dann sah sie Mr Butt. »Oh …«, sagte sie und schaute von ihm zu mir. »Entschuldigung … ich wusste nicht –«
»Das ist Mr Butt«, sagte ich schnell. »Der Mann aus dem Dorf.«
»Morgen, Gina«, sagte Mr Butt. »Siehst gut aus.«
Ich drehte mich um und starrte ihn an. Er beugte sich vor und blinzelte Candy an, sein rotes Gesicht faltig von einem zahnlosen Lächeln.
Er sieht kaum was
, merkte ich.
Deshalb glaubt er, es ist Gina.
Er sagte zu Candy: »Brauchst aber heute mehr als’n Sommerkleid, |341| junge Frau. Du holst dir da drin ja den Tod.«
Candy lächelte betreten und verschränkte die Arme, um sich zu verhüllen. Ich weiß nicht, ob sie verlegen war oder schüchtern oder einfach nur unsicher … doch was immer es war, es wirkte merkwürdig anziehend. Für kurze Zeit konnte ich meinen Blick nicht von ihr abwenden. Aber dann merkte ich, dass sie mir einen Blick zuwarf – einen Hör-auf-mich-anzustarren-und-mach-dassdu-ihn-loswirst-Blick –, und ich drehte mich wieder zu Mr Butt um.
Er schaute immer noch
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