Candy
Lippen.
Ich nickte schweigend, zerknüllte die Serviette und legte sie vorsichtig auf das Tablett. Der Ball aus weißem Seidenpapier lag einen Moment da, dann entknüllte er sich langsam wieder und gab ein Muster aus Lippenstiftrosa und Gelb preis. Ich starrte eine Weile drauf und suchte nach verborgenen Bedeutungen darin, aber da war nichts – es war einfach ein Fleck aus Lippenstift und Ei.
»Joe?«, fragte Candy.
Ich sah auf. Ihr Gesicht wirkte blass und abgespannt, was ihre Augen noch dunkler erscheinen ließ als sonst.
Sie sagte: »Du willst nichts von mir wissen.«
»Wieso nicht?«
»Es ist am besten so.«
»Am besten für wen?«
»Für dich … mich … ich weiß nicht.«
Sie wirkte angespannt – fummelte mit ihrem Feuerzeug rum, blinzelte mit den Augen, klopfte mit den Fingern auf die Tischplatte. Es war, als ob sie verzweifelt irgendwo hinmüsste oder etwas zu erledigen hätte, es aber genauso verzweifelt nicht wollte.
|100| »Ist in Ordnung«, sagte ich. »Von mir aus.«
»Entschuldigung«, unterbrach sie mich und stand langsam auf. »Ich muss aufs Klo.« Sie nahm ihre Handtasche vom Tisch und sah sich im Café um, auf der Suche nach den Toiletten.
»Da drüben«, sagte ich und zeigte auf eine Tür am anderen Ende des Raums.
»Danke«, erwiderte sie und lief schnell los. »Ich brauch nicht lange.«
Ich sah ihr hinterher und erinnerte mich an das letzte Mal, als sie von mir fortging, nachdem ich sie am Bahnhof zum ersten Mal gesehen hatte. Da war sie mit schwingenden Hüften und einem kurzen Lächeln über die Schulter fortgegangen, als wüsste sie, dass sie beobachtet wurde, und als wollte sie sich von der besten Seite zeigen. Jetzt ging sie ganz ohne Eitelkeit – keine schwingenden Hüften, kein Sich-zur-Schau-Stellen, nichts Frivoles. Sie hatte ein Ziel und sie ging so, als ob sie entweder nicht wusste, dass ich sie beobachtete, oder als ob es ihr gleichgültig war.
Als sie durch die Tür verschwand, überlegte ich kurz, ob sie wohl vor mir weglief. Ich stellte mir vor, wie sie den Flur entlangging, durch die Küche huschte, dann durch die Hintertür hinausschlich und quer durch den Zoo lief …
Ja, genau
, dachte ich mir.
Das hat sie vor, oder? Sie macht sich all die Mühe, nur um von mir wegzukommen.
Ich saß eine Weile da, starrte durchs Fenster, dachte nach und lauschte dem dampfenden Zischen des Teeautomaten und dem Klappern von Tellern und Besteck, dann stand ich auf und ging, um draußen zu warten.
Es war jetzt früher Nachmittag und langsam sank schon die Temperatur. Aber die Sonne schien noch, sie ließ den Himmel |101| strahlen und das Gelände des Zoos lag in knackiges Winterlicht getaucht. Die Luft war kristallklar. Ich konnte kilometerweit sehen. Ich sah leuchtend bunte Vögel, Ziegen auf Bergen, Zebras und Lamas, Kapuzineräffchen, die in den Baumwipfeln spielten …
Ich schaute zurück ins Innere des Cafés.
Candy brauchte lange.
Ich fragte mich, was sie tat – Hände waschen, ihr Make-up in Ordnung bringen, jemanden anrufen …? Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Was Mädchen auf Toiletten anstellen, ist und bleibt für mich ein Rätsel. Gina verschwindet manchmal stundenlang. Ich war schon oft versucht, sie zu fragen, was sie dort macht, aber es ist ein heikles Thema. Man läuft immer Gefahr, in Bereiche zu stolpern, die einem nicht peinlich sein
sollten
, es aber trotzdem sind. Denn wenn dir etwas peinlich ist, das dir eigentlich nicht peinlich sein dürfte, landest du in einem Teufelskreis, in dem dir das eigene Peinlichsein peinlich ist … und das ist dann
richtig
peinlich.
Ich schaute wieder zu dem Café rüber, um Candy dazu zu bringen, dass sie sich endlich zeigte:
Komm schon … bitte … wenn du noch länger brauchst, muss ich irgendwas unternehmen. Ich werde jemanden bitten müssen, für mich auf der Damentoilette nachzuschauen … die Frau hinter der Theke … die mit der Schürze, mit der fettverschmierten Brille … ich werde hingehen und ihr erklären müssen, was passiert ist …
Im Innern des Cafés schlug eine Tür. Ich beugte mich zur Seite, um besser sehen zu können. Für ein, zwei Sekunden sah ich überhaupt nichts … und dann war Candy da, eine Vision in Türkis, die aus der Tür trat und ihre Tasche über die Schulter schlang.
|102| Ich seufzte und blickte woandershin, um so gut es ging lässig zu wirken. Hände in den Taschen, mich umschauend, einfach den Anblick in mich aufnehmend und ganz
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