Candy
ich fragte mich, ob das, was ich tat, alles nur noch schlimmer machte.
Candy sah mich immer noch an.
Ich lächelte.
Sie seufzte.
Ich atmete tief ein, schmeckte den Geruch ihres Atems und es verstrich ein Moment zwischen uns – ein stummes Einverständnis, die Wahrheit auf Eis zu legen –, dann nahm sie meine Hand und führte mich hinab in eine Mondscheinwelt.
»Das ist mein Lieblingsplatz«, sagte Candy leise und schob mich die schwach erleuchteten Stufen hinunter. »Es ist immer leer und still hier unten und die Luft ist angenehm kühl. Pass auf die Stufen auf.«
Ich stolperte leicht, hinein in die Dunkelheit. Sie drückte meine Hand fester und zog mich an sich.
»Schließ die Augen«, sagte sie, »und dann öffne sie wieder. Schau, so …« Sie drehte sich mir mit weit aufgerissenen Augen entgegen und sah aus wie eine erschrockene Eule.
Ich lächelte sie an.
»Ernsthaft«, sagte sie. »Dann kommt mehr Licht rein.«
»Wär es nicht einfacher, sie würden das Ganze besser beleuchten?«
»Es
soll
dunkel sein. Das hier sind Nachttiere. Wenn das Licht |110| heller wäre, würden sie die ganze Zeit schlafen.«
Die Stufen führten uns hinunter in einen dämmrigen Gang, und als wir hindurchliefen und die Gehege hinter der Glasfront betrachteten, spürte ich, wie sich die Stille der Nacht in meine Haut senkte. Das Schweigen, die Leere, die Kühle der unterirdischen Luft. Sie roch erdig und frisch.
»Schön, nicht?«, flüsterte Candy.
»Ja … es ist toll.«
»Früher bin ich manchmal allein hergekommen … hier unten könnte ich ewig bleiben.« Ihre Stimme war kaum hörbar. »Es ist ein guter Ort für Traurigkeit …«
Ich war mir nicht sicher, was sie meinte. Gut, wenn man traurig werden wollte? Oder gut, um Traurigkeit loszuwerden?
»Schau«, sagte sie.
Wir waren vor einer Regenwaldkulisse stehen geblieben, einer vom Mond erhellten Welt aus moosigen Ästen, wachsgrünen Blättern und merkwürdig aussehenden Farnen, alles neblig, dunkel und tropfend vor Nässe. Ich trat dichter heran und schaute durch das Glas, doch ich konnte nirgendwo Tiere entdecken.
»Da«, sagte Candy und zeigte in eine Ecke. »Auf dem kleinen Ast ganz hinten. Siehst du ihn?«
Ich schaute genauer. Ein riesiges gelbes Augenpaar starrte uns durch die Dunkelheit neugierig an. Hinter den Augen konnte ich ganz schwach ein kleines pelziges Tier ausmachen, nicht größer als meine Hand, das still auf dem Ast saß.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht … Komm, ich zeig dir mein Lieblingstier.«
Sie nahm wieder meine Hand und führte mich bis zum Ende des Gangs. Ihre Finger fühlten sich so gut auf meiner Haut an … |111| so leicht und schlank … sie drückten sich in meine Handfläche, schickten Candys Berührung durch meinen ganzen Körper …
Es war mehr als alles, was ich bis dahin empfunden hatte.
»Wir sind da«, sagte sie und blieb vor einer anderen Schaufläche stehen. »Das ist es, was ich dir zeigen wollte.«
Diesmal musste ich nicht nach dem Tier suchen, ich sah es sofort. Das Innere des Geheges war viel kahler als bei dem anderen – nur sandiger Boden, ein steinfarbener Hintergrund und ein einsamer Baum mit nackten Ästen. Unbequem auf dem Baum hockte ein fahles rotbraunes Tier, das aussah wie bedröhnt und einen langen, dicken Schwanz hatte. Es war ungefähr so groß wie ein kleiner Hund oder eine große Katze, aber es sah weder nach Hund noch nach Katze aus – es wirkte wie ein kleines Känguru. Kurze Vorderbeine, lange Hinterbeine, ein rundliches Dreiecksgesicht …
»Das ist ein Baumkänguru«, sagte Candy.
»Ein
Baum
känguru?«
Sie nickte, ihre Augen feucht vor Mitleid. »Es bewegt sich nie. Es sitzt die ganze Zeit nur da, als ob es zu viel Angst hätte, um irgendwo hinzulaufen.«
Sie hatte Recht – das Tier sah verängstigt aus, verängstigt und wackelig, als ob es jeden Moment vom Baum fallen würde. Es hätte mich gar nicht überrascht, wenn das tatsächlich passiert wäre. Das Tier war ein Känguru, verdammt. Kängurus sind nicht dazu geschaffen, auf Bäume zu klettern. Und dieses hier schien das zu wissen. Sein Gesicht war erfüllt von traurigem Erstaunen, einem jämmerlichen Blick, der zu sagen schien:
Ich weiß, ich bin ein Baumkänguru und soll auf Bäume klettern, aber ich kann das nicht, ich mag es einfach nicht.
|112| »Arme kleine Sau«, sagte Candy, »sitzt den ganzen Tag in einem Baum fest …«
Das Känguru blinzelte traurig.
Candy
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