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Capitol

Capitol

Titel: Capitol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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nicht länger aus dem Wasser halten konnte, ertrank er.
    Aber bei alledem war Jerry schmerzunempfindlicher geworden. Sein Verstand hatte endlich gelernt, daß kei ner dieser Tode für immer war. Und wenn jetzt der Moment des Todes kam, hielt er es besser aus, wenn es auch immer noch schrecklich war. Er schrie weniger. Er erwarte te den Tod mit größerer Ruhe. Er beschleunigte sogar den Prozeß, indem er möglichst viel Wasser atmete und absichtlich zappelte, um den Hai herbeizulocken. Als sie ihn von den Wachen zu Tode treten ließen, brüllte er die ganze Zeit: »Härter, härter!« bis er nicht mehr brüllen konnte.
    Und als man dann wieder einen Bildschirmtest durchführte, verkündete er den Zuhörern voll Eifer, daß die russische Regierung das schlimmste Terrorsystem sei, das die Welt je gekannt hätte, denn diesmal sei sie in der Lage, die Macht aufrechtzuerhalten, denn es gäbe kein Ausland mehr, von dem aus sie bedroht werden könnte. Das freieste Volk der Geschichte hätten sie dazu gebracht, die Sklaverei zu lieben. Seine Rede kam von Herzen – er verabscheute die Russen und dachte gern daran, daß es einst Freiheit und Recht und ein gewisses Ausmaß an Gerechtigkeit in Amerika gegeben hatte.
    Mit aschfahlem Gesicht betrat der Ankläger den Raum.
    »Sie Scheißkerl«, sagte er.
    »Oh, diesmal hat es bei den Zuhörern gefunkt?«
    »Hundert loyale Bürger, und außer dreien von ihnen haben Sie sie alle korrumpiert.«
    »Ich habe sie überzeugt.«
    Eine Weile herrschte Schweigen. Dann setzte sich der Ankläger und vergrub das Gesicht in den Händen.
    »Verlieren Sie jetzt Ihren Job?« fragte Jerry.
    »Was denn sonst?«
    »Das tut mir leid. Sie waren gar nicht schlecht.«
    Der Ankläger sah ihn angewidert an. »Bisher hat nie jemand hierbei versagt. Noch nie habe ich jemanden über den zweiten Tod hinausgeführt. Sie sind ein dutzendmal gestorben, Crove, und haben sich daran gewöhnt.«
    »Das wollte ich gar nicht.«
    »Wie haben Sie das bloß geschafft?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Was für ein Tier sind Sie nur, Crove? Können Sie keine Lüge erfinden und an sie glauben?«
    Crove kicherte. (Früher hätte er auf dieser Ebene von Humor brüllend gelacht. Aber, an den Tod gewöhnt oder nicht, er hatte Narben davongetragen. Und er würde niemals mehr laut lachen.) »Es war mein Beruf. Als Bühnenschriftsteller. Die absichtliche Aufhebung des Nichtglaubens.«
    Die Tür öffnete sich, und ein wichtig aussehender Mann mit einer ordenbehängten Militäruniform kam herein. Ihm folgten vier russische Soldaten.
    Der Ankläger seufzte und stand auf. »Leben Sie wohl, Mr. Crove.«
    »Leben Sie wohl«, sagte Jerry.
    Die Soldaten brachten Jerry aus dem Gefängnis an einen völlig anderen Ort. Es war ein großer Gebäudekomplex in Florida. Cape Canaveral. Jerry erkannte, daß man ihn ins Exil schaffen wollte.
    »Wie ist es?« fragte er den Techniker, der ihn auf den Flug vorbereitete.
    »Wer weiß?« fragte dieser zurück. »Es ist noch nie jemand zurückgekommen. Verdammt, es ist auch noch nie jemand angekommen.«
    »Werde ich Schwierigkeiten haben aufzuwachen, nachdem ich mit Somec eingeschläfert wurde?«
    »In den Labors hier auf der Erde nicht. Wie es dort draußen ist, weiß man nicht.«
    »Glauben Sie, daß wir leben werden?«
    »Wir schicken Sie zu den Planeten, die so aussehen, als ob sie bewohnbar sein könnten. Wenn nicht, tut es uns leid. Sie haben eine gewisse Chance. Das Schlimmste, das Ihnen geschehen kann, ist, daß Sie sterben.«
    »Wenn’s weiter nichts ist«, murmelte Jerry.
    »Jetzt legen Sie sich hin, damit ich Ihren Gehirninhalt aufzeichnen kann.«
    Jerry gehorchte, und ein weiteres Mal zeichnete der Helm seine Gedanken auf. Es war natürlich ganz unwiderstehlich: Wenn jemand sich der Tatsache bewußt ist, daß seine Gedanken aufgezeichnet werden, erkannte Jerry, ist es ihm unmöglich, nicht zu versuchen, an etwas Wichtiges zu denken. Als ob man eine Bühnenrolle spielt. Das Publikum würde allerdings nur aus einer Person bestehen, aus einem selbst, wenn man wieder aufgewacht war.
    Aber er dachte dies: Daß dies Raumschiff und alle anderen, die schon ausgeschickt worden waren oder noch ausgeschickt werden würde, um die Gefangenenkolonien zu besiedeln, in Wirklichkeit nicht das waren, was die Russen dachten. Gewiß, die in den Gulag-Schiffen transportierten Gefangenen würden jahrhundertelang von der Erde weg sein, bevor sie landeten, und viele oder die meisten von ihnen würden nicht überleben.

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