Capitol
Batta vollkommen im Käfig, obwohl sie das, bevor sie zweiundzwanzig war, kaum erkannte. Die Stäbe waren so zerbrechlich, daß die meisten anderen ihre Existenz nicht wahrgenommen hätten.
Ein Vater, der einige Monate vor Battas Geburt bei einem merkwürdigen U-Bahn-Unfall verkrüppelt und von der Regierung pensioniert worden war.
Eine Mutter, die ein Herz von Gold hatte, aber außerstande war, sich länger als zehn Minuten sinnvoll auf irgend etwas zu konzentrieren.
Und Geschwister, die sich im Chaos und in der Bedrücktheit eines geistlosen, von keinem Willen gelenkten Heims vielleicht aus dem Gefüge einer angepaßten Gesellschaft gelöst hätten, wäre Batta nicht (ohne zu entscheiden) zu der Entscheidung gelangt, daß sie selbst Mutter und Vater ihrer Brüder, Schwestern und Eltern sein wollte.
Manch anderer hätte dagegen aufbegehrt, gleich nach der Schule heimgehen zu müssen, ohne jede Möglichkeit, Freunde zu treffen und in den endlos langen Korridoren von Capitol die verrückten Dinge zu treiben, die unter den Heranwachsenden der Mittelklasse üblich waren. Batta aber kam einfach von der Schule zurück, erledigte die Hausarbeit, richtete das Essen, unterhielt sich mit ihrer Mutter (oder, vielmehr, hörte ihr zu), half den anderen Kindern bei ihren Problemen und schrak nicht einmal davor zurück, den Vater in jenem Winkel aufzusuchen, in dem er sich vor aller Welt verbarg und dabei so tat, als hätte er seine Beine noch, oder, als ob ihr Fehlen seinen Wert nicht im geringsten minderte. (»Ich habe schließlich fünf verdammte Kinder gezeugt, oder etwa nicht?« wollte er von Zeit zu Zeit beharrlich wissen.)
Aber es war nicht alles trostlos. Batta lernte sehr gern, ja, sie war nicht weit davon, ein Genie zu sein – und sie ließ ihrem Lerneifer derart die Zügel schießen, daß sie das College besuchen konnte, hauptsächlich weil sie ein Stipendium erhielt und ihre Mutter glaubte, man müsse alles in Anspruch nehmen was es umsonst gab.
Und am College lernte sie diesen jungen Mann kennen.
Auch er war nicht weit davon entfernt, ein Genie zu sein – in anderer Richtung. Batta hatte nie jemanden wie ihn gekannt (ihr fiel gar nicht auf, daß sie überhaupt kaum jemanden gekannt hatte), aber es entspann sich eine verrückte Freundschaft, die darin bestand, daß sie einander in Geschenkpapier verpackte sezierte Tiere aus dem Grundkursus für Zoologie zuschickten oder stundenlang schweigend zusammen saßen und für ihr Examen lernten.
Kein Händchenhalten, keine Kußversuche, keine Fummelexperimente im Dunkeln.
Batta wußte nicht recht, was das überhaupt war und ob es ihr gefallen würde (sie stellte sich immer vor, wie ihre Mutter es mit einem Mann ohne Beine trieb), und dabei überlegte sie, ob Abner Doon überhaupt jemals an Sex dachte.
Und dann war das College absolviert, sie erhielten ihren akademischen Grad – sie in Physik, er im Verwaltungsfach – und sahen einander nicht wieder, und die Monate vergingen, und sie wurde zweiundzwanzig, und plötzlich fiel es ihr ein, daß sie im Käfig steckte.
»Wohin gehst du jetzt? Bist du doch mit dem College fertig und brauchst nicht mehr in die Vorlesungen zu gehen, nicht wahr?« fragte ihre Mutter kläglich.
»Ich möchte jetzt gern Spazierengehen«, antwortete Batta.
»Aber Batta, dein Vater braucht dich. Du weißt doch, daß er nur glücklich ist, wenn du hier bist.«
Das stimmte. Und Batta hielt sich immer öfter in der Dreizimmerwohnung auf, bis eines Tages, fast ein Jahr nach dem Examen, der Summer ertönte.
»Abner«, sagte sie eher überrascht als erfreut. Sie hatte ihn fast vergessen. Sie hatte sogar schon fast vergessen, daß sie eine College-Ausbildung hatte.
»Batta. Ich habe dich nie besucht. Ich wollte es immer.«
»Nun«, sagte sie und drehte sich zu ihm um, wobei ihr einfiel, wie schrecklich sie aussah.
»Hier bin ich.«
»Du siehst ja entsetzlich aus.«
»Und du siehst aus wie ein Exemplar, das man aus Versehen nicht seziert hat.«
Sie lachten. Die alten Zeiten. Der alte Zauber. Er wollte mit ihr ausgehen. Sie lehnte ab. Er wollte mit ihr Spazierengehen. Sie hatte keine Zeit. Und als ihr Vater sie zum fünften Mal seit seinem Eintreffen aus dem Zimmer rief, beschloß er, daß die Unterhaltung zu Ende war, und verließ die Wohnung bevor sie zurückkam.
Die Tage vergingen, und jeden Tag geschah etwas anderes, während die anderen Kinder heranwuchsen (und heirateten oder nicht heirateten, jedenfalls aber das Haus verließen).
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