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Capitol

Capitol

Titel: Capitol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orson Scott Card
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Tisch und wartete darauf, daß man ihm Somec verabfolgte. Wenn er in Capitol aufwachte und man ihm sein Gedächtnis wiedereinspielte, würde er sich nur an die Zeit vor der Aufzeichnung seines Gehirninhalts erinnern. Die Augenblicke zwischen der Aufzeichnung und der Wiedereinspielung würden für immer verloren sein.
    Und deshalb dachte er an das Kind zurück, dessen warmen Körper er gehalten hatte, und deshalb wünschte er, er hätte es retten, beschützen und dem Leben zurückgeben können.
    Nein, ich lebe für das Kind weiter.
    Den Teufel tue ich. Ich lebe für mich.
    Dann kamen sie und stießen ihm die Nadel ins Gesäß, nicht zum kalten Todesschlaf, sondern zum heißen Schlaf des Lebens. Und als der brennende Schmerz des Somec ihn durchflutete, rollte er sich auf dem Tisch zu einem Ball zusammen und rief: »Mutter! Ich liebe dich!«

Zieht Gott sich zurück,
wenn niemand mehr seinen Namen kennt?
     
    Fürwahr, ihr alle zündet ein Feuer an, setzt Pfeile in Brand, fahrt in eine Feuerflamme hinein und in die Brandpfeile, die ihr entzündet.
    Von meiner Hand geschieht dies an euch, in Qualen werdet ihr liegen.
    – Isaias 50:11
     
    Amblick, der Prophet, lag sterbend auf einem Bett, das sie ihm auf dem Fußboden des Raumes bereitet hatten, der ihnen von der Regierung kostenlos für ihre Zusammenkünfte zur Verfügung gestellt worden war. Er war älter als hundert Jahre, und da die Kirche der Unsterblichen Stimme nur noch einige Dutzend Mitglieder hatte, deren keines je erklärt hatte, die Stimme zu hören, war es klar, daß auch die Kirche im Sterben lag; daß es keinen Propheten mehr gab, der ihnen den rechten Weg verkünden konnte.
    Das wußte Amblick. Die Gemeinde wußte es. Es gab wenig zu sagen, als Amblick auf seinem Bett lag und zur Decke mit ihrer indirekten Beleuchtung und den schon alten Akustikplatten hinauf starrte. Sein Jahrhundert war lang gewesen; zum erstenmal hatte er die Stimme mit fünfzehn gehört, und vierundneunzig Jahre lang war er Prophet gewesen. Wenn er der Stimme ein besserer Diener gewesen wäre, das wußte er, wäre die Kirche nie zu solchem mißlichen Zustand verkümmert. Er empfand Schuld und Scham, aber noch intensiver empfand er Müdigkeit. Ein erbarmungsloses Jahrhundert, in dem die Gesellschaft höhnische Gleichgültigkeit gezeigt hatte. Predigt soviel ihr wollt, schien die Ansicht der Regierung zu sein, wir stellen euch sogar einen Versammlungsraum zur Verfügung, aber ihr werdet niemanden zum Konvertiten machen, kein Leben verändern. Sprecht und verkündet euren Glauben wie ihr wollt, schien die Welt auf Capitol sie zu ermuntern, wir werden euch tolerieren, wir werden freundlich lächeln, und einige von uns werden euch während einer Wachperiode zur Belustigung sogar einladen, aber wir werden nicht bereuen und etwa Somec aufgeben oder Sex oder die Live Shows oder die Spiele. Wir werden auch Krieg und Politik nicht aufgeben oder den mörderischen Konkurrenzkampf im Geschäftsleben.
    »Es gibt so viel zu tun«, sagte Amblick, »aber der Ozean der Sünde ist über mich hinweggerollt, und ich habe nichts getan.«
    Nein, murmelten seine Anhänger, du bist ein großer Mann gewesen.
    Aber einer der Zuhörer murmelte keinen Trost. Er verstand nicht, daß der alte sterbende Mann vielleicht Trost brauchte. Er sah auch weder ein, noch begriff er, daß der Tod eines Mannes den Tod eines ganzen Glaubens bedeuten sollte. Garol Stipock war sieben. Und Amblick war sein Urgroßvater, eine so entfernte Beziehung, daß Garol Hinweise auf Gott oder die Stimme immer mit solchen auf seinen Urgroßvater verwechselt hatte, dessen Stimme, wenn er sprach, von überallher zu kommen schien und in dessen Augen eine Weisheit lag, der nichts verborgen war, die alles geschaffen hatte, und der am Ende alles gelingen würde.
    So kam es Garol gar nicht in den Sinn, daß Amblick Hilfe brauchte, um friedlich aus dem Leben zu scheiden; er, Garol, brauchte Hilfe.
    »Ehrwürdiger Vater«, sagte Garol, und Amblick und die anderen sahen ihn an. »Ehrwürdiger Vater, wenn du stirbst, wer wird uns die Worte der Stimme verkünden?«
    Der Ehrwürdige Vater bekam traurige Augen, und die Erwachsenen waren unangenehm berührt davon, daß ein Kind die Frage stellte, die sie alle zu vermeiden suchten. »Die Stimme wählt ihr eigenes Werkzeug«, antwortete Amblick leise, und in seiner Sprache blubberte es von der Flüssigkeit in seiner Lunge.
    »Aber, Ehrwürdiger Vater«, beharrte Garol, und die Erwachsenen hätten viel darum

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