Capitol
gegeben, ihn zum Schweigen zu bringen (aber das konnten sie nicht, denn Kinder waren reine Werkzeuge in der Hand Gottes, und es schickte sich ohnehin, daß Amblick an der Schwelle des Todes die harten Fragen ertrug statt ihnen auszuweichen). »Ehrwürdiger Vater, was ist, wenn die Stimme niemanden erwählt? Was, wenn keiner würdig ist?«
»Dann«, sagte Amblick, »wird niemand die Stimme hören.«
Garol hatte gewußt, daß dies die Antwort sein würde, und es war ein so schrecklicher Gedanke, daß er ihn nicht ertragen konnte. Tränen liefen ihm die Wangen herab, und er sagte: »Ehrwürdiger Vater, kannst du uns nicht die letzten Worte der Stimme übermitteln, damit wir wissen, wie wir leben sollen, wenn du fort bist?«
Und Amblick seufzte und sank in die Kissen zurück und überlegte, ob die Stimme überhaupt je wirklich existiert hatte. In der letzten Zeit hatte es jedenfalls kaum noch Worte gegeben, nur ein Gefühl der Verzweiflung und drohenden Verhängnisses. Aber war nicht andererseits die Tatsache, daß die Stimme sich nicht äußerte, wo er sie so dringend brauchte, geradezu ein Beweis dafür, daß es sie wirklich gegeben hatte?
Sie? Nein, er hatte sich nicht geäußert. Und Amblick versuchte, wenigstens das bißchen Wahrheit zu fassen und festzuhalten, das ihm gesagt hatte, daß es sich bei der Stimme nicht nur um eine ätherische Quelle der Inspiration handelte sondern eher um eine Art Person. Halt dich an etwas fest, sagte er sich, und das Blubbern in seiner Lunge stieg ihm wieder in die Stimme, als er ausrief: »Oh, Gott, wo bist du? Wo ist die Wand, hinter der sich dein Gesicht verbirgt? Warum versteckst du dich stumm im Lärm dieser Welt?«
Und die Gemeindemitglieder saßen oder standen aufrecht da, ihre Blicke auf Amblick gerichtet, und die Schreiber waren bereit, jedes seiner Worte zu notieren. Denn sie kannten diese Stimme – es war die Stimme der Stimme, und Amblick würde ihnen, ganz wie der Junge es verlangt hatte, vor seinem Tod die letzten Worte Gottes verkünden.
»Die Tiger rasen im Wald, und die Löwen brüllen in der Ebene, und die Stimme des Jägers wird verstummen.« Die Federn eilten schreibend über das Papier. »Der Jäger wird jetzt zuschauen und warten, denn jene, die schlafen, werden bald nie mehr erwachen, und die Tiger werden den Löwen den Leib aufreißen, während die Löwen den Tigern die Kehle zerfetzen.«
»Jene, die aus der Zukunft borgen, müssen zurückzahlen, und sie werden in Blut und Schrecken zahlen, und die Sterne werden sich verfinstern, und in der Dunkelheit über allen Welten wird der Mensch seinen Gott wiederfinden und sich fragen, wie er ihn in jenen goldenen Zeiten je hatte vergessen können, da die Sterne eine Handvoll Juwelen waren, die man kaufen und verkaufen konnte. In der Dunkelheit werde Ich wieder reden, denn im Licht wollen die Menschen mich nicht hören.
Mein Knecht Amblick. Er war der schwächste meiner Knechte, und doch wird, wenn er stirbt, die letzte Kraft die Welt verlassen. Nur einer von euch wird das Ende erleben. Und dieser eine wird nicht wissen, ob sein Gott die letzte Schlacht gewonnen oder verloren hat.«
Und dann schwieg Amblick, und die Federn brachten die letzten Worte zu Papier und verharrten endlich beim Schlußpunkt, und dann streckte Amblick die Hände nach Garol Stipock aus und umarmte ihn, als wollte er ihm dafür danken, daß er die letzten Worte der Stimme hatte erfahren wollen, und so war es, daß Garol als erster das Steifwerden und Erschlaffen der Hände und Arme bemerkte und wußte, daß Amblick tot war.
Sie nahmen die Leiche und übergaben sie den Maschinen, die ihnen die Asche zurückgaben, damit sie in den Garten des Lebens gestreut werden konnte. Und dann gingen sie alle nach Hause.
Garols Eltern hatten ihre und damit auch seine Entscheidung getroffen. Nach Amblicks Tod, so beschlossen sie, konnte man die Religion nur noch privat ausüben; mit den Predigten und Verkündigungen (und damit nicht zufällig auch mit den ständigen Unannehmlichkeiten und der Ächtung) war es vorbei. Gott würde ihr Geheimnis sein; sollten die Nachbarn ihren eigenen Weg suchen, den wahren Weg würde man ihnen nicht mehr predigen.
Nicht alle Anhänger kamen zu diesem Entschluß. Viele hielten noch eine Zeitlang Zusammenkünfte ab. Einer von ihnen behauptete sogar, die Stimme gehört zu haben, aber als er die Enthüllungen diktieren wollte, weigerten sich die Schreiber, sie zu notieren, denn sie klangen unglaubwürdig, und sie wurden
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