Caras Gabe
Horizont ruhte. „Warum fliegen wir nicht einfach auf den Gipfel und –“
„Wir werden von unten durch den Berg aufsteigen“, unterbrach Lurian mich sachlich, „ansonsten würden sich Marmons … Kinder alle auf einmal auf uns stürzten und dein Leben wäre schneller ausgehaucht als eine Kerze im Sturm.“
Ich hob eine Augenbraue.
„Glaub mir, es gibt keinen anderen Weg als durch den Leib des Berges.“
„Bist du dort schon gewesen?“
Er senkte den Blick. „Ja, einmal.“
„Als du Marmon verlassen hast?“
Lurian lachte humorlos auf. „Nein.“
Bevor ich eine weitere Frage stellen konnte, wandte Arun sich zu uns um. Der Wind wehte ihm den Umhang um den Körper und das Haar ins Gesicht. „Es ist so weit.“
Ich schaute zum Horizont und hielt den Atem an. Die letzten Strahlen der Sonne brachen wie Lanzen über den Zacken der Bergrücken. Die Nacht, die so lange in den Schatten gelauert hatte, stürzte sich über die Welt und verschlang sie mit einem Satz. Der heulende Wind ließ nach, verstummte vollkommen, wie alle Geräusche um uns herum.
„Wo sind die Sterne?“, flüsterte ich. „Der Mond?“ Der Nachthimmel war wie ein saumloses schwarzes Tuch, die letzten verbliebenen Lichter glommen um Marmons Berg.
Arun trat näher an mich heran und legte einen Arm um mich. „Dies ist die erste Nacht“, sagte er ehrfürchtig. „Sie ist ungeboren, ohne Augen.“
Bei den Worten lief mir ein eisiger Schauer über den Rücken. Arun zog mich näher zu sich und ich war dankbar für die Wärme, die er ausstrahlte. Die Welt schimmerte und verschwamm.
Am Fuße des Berges kam ich wieder zu mir. Spärlich drang das Licht von Marmons Lichtträgern zu uns hinab, als würden dort oben Fackeln hängen. Ich konnte kaum etwas erkennen, doch das was ich sah, raubte mir den Atem. Ich legte den Kopf in den Nacken, bis ich nicht mehr steiler emporschauen konnte.
Ein gewaltiges Tor, wie von Riesenhand erbaut, war in die Seite des Berges gehauen worden. Ohne jegliche Steinbilder oder andere Verzierungen. Es wirkte kalt und blicklos, wie ein leeres Auge oder das offene Maul eines verendeten Monstrums. Ich kam mir furchtbar winzig und unbedeutend vor.
Aus den Schatten hinter Arun kam Lurian angeschwebt. Er landete elegant, faltete seine Flügel im Rücken und nickte mir auffordernd zu.
Nie zuvor hatte die Nacht mir Angst gemacht. Im Gegenteil, sie war stets ein Ort der Zuflucht und der Ruhe für mich gewesen. Diese erste Nacht war anders, das spürte ich, doch mein Unbehagen war nichts im Vergleich zu dem schleichenden Grauen, das ich empfand, wenn ich auf die Schwärze hinter dem Tor blickte.
„Gehen wir“, sagte ich und schritt schnell auf die Torbögen zu, bevor meine Zweifel zu groß für mich wurden.
Dunkelheit umfing mich von allen Seiten, griff nach mir und hielt mich fest, als hätte jemand eine Decke über mich geworfen. Ich hoffte, dass Arun keine Schwierigkeiten hatte zu sehen, denn ich war ich blind. Diese Dunkelheit war anders als die der Nacht, schlimmer. Sie war nicht die Abwesenheit von Helligkeit, sondern schien alles Licht an sich zu saugen und zu schlucken. Selbst alle Geräusche wirkten gedämpft.
„Der Gang schmälert sich“, drang Aruns Stimme durch die Finsternis. Vor Erleichterung brach ich beinahe in die Knie. „Weiter hinten weitet er sich. Ich denke, dort befindet sich eine Art … Saal.“ Er nahm meine Hand und zog mich mit sich. „Folgt mir.“
Ich legte meine andere Hand auf den Schwertgriff. „Müssen … müssen wir nicht fürchten, dass sie uns hier überfallen?“
Lurians leises Lachen erklang in meinem Rücken. „Nein“, sagte er schlicht.
„Woher weißt du das so genau?“, fragte ich, langsam aber sicher wütend darüber, dass jede zweite Frage von mir den Engel amüsierte.
„Sie sind Wesen des Lichtes und der Luft. Würdest du dich am Grund eines Meeres aufhalten?“
Darauf fiel mir keine Antwort ein, auch wenn ich seinen überlegenen Ton nicht mochte. Stattdessen konzentrierte ich mich auf meine Umgebung oder, eher gesagt, das Fehlen jeglicher Umgebung.
Der Eingang des Tunnels war schon lange hinter uns verschwunden und die Dunkelheit schluckte mich so vollkommen, dass ich für einen Augenblick fürchtete, mich komplett darin verloren zu haben. Ich sah nichts, hörte nichts, selbst den Boden unter meinen Füßen spürte ich nicht mehr. Einzig Aruns Hand, die meine fest im Griff hielt, hatte noch etwas Wirkliches an sich.
Es war unmöglich zu sagen, wie lange
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