Caras Gabe
Sonne geboren und hinabgestiegen, um uns zu bestrafen, weil wir alle unrein –“ Ich unterbrach mich, als mir klar wurde, dass ich die Lehren der Priester rezitierte.
Rosana erhob sich und zog mich mit sich auf die Beine. „Komm mit. Ich werde dir etwas zeigen.“ Mit den Worten trat sie an eines der Regale und öffnete ein schmales Holzkästchen. Zum Vorschein kamen Glasscherben in verschiedenen Größen und Farben. Rosana pickte eine durchsichtige Scherbe heraus und führte mich in den angrenzenden Raum, der sich als überraschend saubere, kräuterfreie Küche mit einem glatten Steinboden herausstellte.
„Sieh genau hin“, sagt sie und hielt die Scherbe vor ein Fenster.
Ich tat, was sie verlangte, und trat näher heran. Das trübe Licht des Nachmittags brach sich funkelnd in der kleinen Scherbe. Rosana hob eine Hand davor und murmelte ein paar Worte. Dann zog sie ihre Hand weg.
Vor Erstaunen machte ich einen Schritt rückwärts, nur um mich sogleich wieder vorzubeugen. Die Scherbe in ihrer Hand schien von innen zu brennen, als habe sie das Licht der Sonne in sich gebunden.
Fasziniert betrachtete ich das goldglänzende Gebilde und ertappte mich dabei, wie ich eine Hand danach ausstreckte.
Rosana legte den Kopf schräg, hielt die Scherbe zwischen zwei Fingern hoch und drehte sie hin und her. „Es ist ein einfacher Zauber“, sagte sie beiläufig. Dann ließ sie das leuchtende Stück Glas fallen. Mit hellem Klirren traf es auf den Steinboden, zersprang und erlosch. „Doch er ist ebenso leicht zu zerstören.“
Rosana bückte sich, um die Scherben einzusammeln, und legte sie auf das Fensterbrett. „Marmon ist es gelungen, die Seelen seiner Anhänger, ihr Bewusstsein oder wie du es nennen möchtest, in Glas zu sperren. Das ist es, was die Lichtträger, im Gegensatz zu dieser einfachen Scherbe, unzerstörbar macht.“
„Das ist unglaublich“, hauchte ich. „Bist du eine der Alten?“
Rosanas Gelächter erhellte die Küche. „Nein, oh, nein.“ Sie stemmte eine Hand in die Hüfte und fächerte sich mit der anderen Luft zu. „Oh, nein. Im Gegensatz zu ihnen bin ich wie ein Kind, das sich blind durch den Wald tastet.“ Mit einem Schlag wurde sie ernst und ihre Stimme senkte sich zu einem verschwörerischen Flüstern. „Doch ich kann sie finden. Wo sie sich auch verbergen.“
„Wie –?“
Vor dem Haus ertönten Hufgetrappel und Pferdegewieher. Rosana klatschte in die Hände. „Sie sind zurück!“, rief sie freudig und stürmte davon.
Mein Blick hing an der zerbrochenen Glasscherbe auf dem Fensterbrett. Wenn Rosana Recht hatte, dann waren die Lichtträger keine höheren, gottähnlichen Wesen, wie die Priester uns glauben machen wollten, sondern bloß Menschen, deren Bewusstsein in Glas gefangen war. Von Marmon, dem Erschaffer der Lichtträger. Ein kalter Schauer kroch mir über den Rücken und ich musste die Augen willentlich von den Scherben losreißen. Schnell folgte ich Rosana ins Wohnzimmer und spähte aus der Haustür, eine Hand am Rahmen.
Drei Männer stiegen gerade von ihren Pferden. Sie trugen abgetragene grüngraue Uniformen, waren bewaffnet und machten den Eindruck, als hätten sie einen anstrengenden Ritt hinter sich. Die Leiber der Pferde dampften in der kühlen Luft, sie schnaubten aufgeregt und schüttelten ihre Köpfe, was ihr Geschirr zum Klirren brachte.
Zwei der Männer führten die Pferde in die Scheune. Der Dritte schnappte sich Rosana, warf sie über seine Schulter und marschierte mit ihr aufs Haus zu. Die rothaarige Frau quietschte und lachte und machte nur halbherzige Versuche, sich zu befreien.
Verdattert starrte ich ihnen entgegen.
„Hast du mich vermisst?“, rief der Mann und tätschelte Rosanas Hinterteil. Seine Stimme klang wie die eines Bären. Als er mich sah, hielt er inne und stemmte eine Faust in die Seite. „Du hast Besuch.“
Rosana wand sich, bis er sie absetzte. Sie wankte kurz und strich sich das wirre Haar aus einem rot glühenden Gesicht. „Ähm, Cara. Das ist Kin Fehr.“
Ich musterte den stämmigen Mann und nickte zum Gruß. Er hatte dunkles Haar, das ihm schweißnass am Kopf klebte, eine mehrfach gebrochene Nase und den Schatten eines Bartes, der sich um seine Kiefer schmiegte. Er war von imposanter Statur, doch etwas in seiner Haltung ließ mich ihn nicht im Geringsten als Bedrohung einstufen. Vielleicht war es auch das Glitzern in seinen Augen. Dort lauerte der Schalk.
Er kam auf mich zu und streckte mir eine Pranke entgegen. Ich ergriff
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