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Caras Gabe

Caras Gabe

Titel: Caras Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maya Trélov
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„Ghalla, darf ich dir eine Frage stellen?“
    Die ehrwürdige Frau nickte.
    Ich holte tief Luft. „Schon seit längerem sehe ich ... eine Elster. Sie hilft mir. Ich habe mich gefragt, was das zu bedeuten hat.“
    Ghalla legte den Kopf schräg und musterte mich eindringlich. „Elstern.“ Sie lächelte. „Diese Vögel bringen fertig, was die wenigsten von uns vermögen: die Vereinigung zweier widersprüchlicher Prinzipien. Wenn eine Elster dir den Weg weist, bedeutet das vermutlich, dass du den schmalen Pfad zwischen Licht und Dunkelheit, Wandel und Starre beschreitest. Es ist eine Gabe, die nur wenige besitzen.“ Sie legte eine Hand auf ihre Brust und verneigte sich erneut. „Ein weises Geschöpf dieser Vogel. Auf bald, Cara.“
    Damit drehte sie sich um und schwebte in den Wald zurück. Anders konnte man ihre fließende Art sich zu bewegen nicht bezeichnen.
    Ich stand sicher noch eine lange Zeit mit offenem Mund im Wald und schaute Ghalla hinterher, obwohl sie schon längst zwischen den Bäumen verschwunden war. Ein Kälteschauer holte mich aus meiner Starre. Eilig steckte ich die Schwanenfeder in eine Innentasche meiner Tunika und rubbelte meine Hände über meine Oberarme, um wieder warm zu werden.
    Zuerst überlegte ich zurück zur Hütte zu gehen, doch eine unbestimmte Unruhe hatte von mir Besitz ergriffen und so beschloss ich weiter durch den Wald zu wandeln. Ich schritt langsamer als zuvor, über feucht glänzende Felder von tiefgrünem Sternchenmoos, wanderte an Brombeersträuchern, Pilzkreisen und glucksenden Bächen vorbei und stieg über sturmgefällte Eichen.
    Die ganze Zeit über hatte ich ein seltsam drängendes Gefühl in der Brust, etwas, das es mir schwer machte, zu atmen. Es war wie ein Ruf, der aus dem Wald reichte, der nur mir galt, und ich konnte nicht anders, als ihm zu folgen. Ich lief eine ganze Weile, ohne zu finden, was mich so unruhig gemacht hatte. Doch dann entdeckte ich ihn.
    Er stand still wie eine Statue mit dem Rücken zu mir, das Gesicht dem Himmel zugewandt, auf einer Lichtung im Wald. Er war von diesem warmen Glanz erfüllt, der mich an Feuerschein erinnerte, und das machte ihn mir zugleich vertraut und abstoßend. Ich konnte nicht anders, als ständig das Bild meines brennenden Vaters vor Augen zu haben, geschmolzene Haut und glimmendes Haar.
    Die Flügel des Lichtträgers regten sich. Sie wirkten grau in diesem Licht, doch nicht weniger brillant. Langsam wandte er sich zu mir um.
    „Ich habe auf dich gewartet.“
    Überwältigt starrte ich ihn an. Er sah tatsächlich aus, als hätten die Hände eines Künstlers ihn geformt, um den perfekten Krieger zu erschaffen. Ich biss mir auf die Unterlippe, um meinen Blick von seinen unbedeckten Armen loszureißen, und ließ ihn stattdessen an seinem Oberkörper emporwandern.
    Das Haar schimmerte in der Farbe eines Sonnenuntergangs und die Augen glänzten wie Bernstein. Sein Gesicht hatte die gleiche überirdische Schönheit an sich wie die aller Lichtträger, nur dass bei ihm diese abstoßende Grausamkeit fehlte. Doch was mich wirklich aus der Balance brachte, war seine Stimme. Sie klang vollkommen anders als die der übrigen Lichtträger. Nicht schrill und kratzend, sondern sanft, tief und süß wie Honig. Auch seine Kleidung war anders. Er trug nicht die weitfallenden hellen Gewänder der Lichtträger, sondern eine Hose und ein Hemd aus weichem, braunem Leder, ungeachtet der Kälte.
    „Du bist Lurian“, brachte ich atemlos hervor.
    Er verbeugte sich anmutig, wobei seine Flügel leise klirrten. Das Geräusch erinnerte mich an den Klang eines Windspiels, das mein Vater früher aus verschiedenen Metallteilen gefertigt und an mein Fenster gehängt hatte. Ein Sturm hatte es irgendwann fortgerissen.
    „Ich bin ein Engel“, sagte Lurian. „Kein Lichtträger.“
    „Oh“, machte ich, leicht verwirrt. „Ich meine … ich wusste, dass du anders bist, aber … wo liegt der Unterschied?“
    Er schenkte mir ein mildes Lächeln, das sich wie ein Sonnenaufgang anfühlte. „Die Lichtträger beugen sich Marmons Willen“, erklärte er geduldig. „Ich beuge mich niemandem.“
    Ich hörte den Stolz, der in diesen Worten mitschwang, nur allzu deutlich. Und ich verstand ihn gut. Auch ich hatte mich aus eigener Kraft aus den Fesseln der Priester befreit. Ich wusste, welchen Mut es erforderte und welche Opfer.
    „Du musst sehr einsam sein.“
    Lurian hielt inne, verwundert und zu meinem Erstaunen leicht verunsichert. Er sah mich auf eine Art

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