Caras Gabe
an, als versuche er in mir zu lesen, wie eine Wahrsagerin in ihrer Glaskugel.
„Weshalb bist du hier?“, fragte ich ihn.
Der Engel legte den Kopf schräg. Eine leichte Falte entstand zwischen seinen Augenbrauen. „Hat Arun dir gar nichts erzählt?“
Stumm schüttelte ich den Kopf und senkte den Blick auf den Waldboden. „Nein, er scheint mir nur sehr wenig zu erzählen. Leider.“
Der Engel trat näher heran. Das Leuchten seiner bernsteinfarbenen Augen war so intensiv, dass es mich beinahe blendete. „Cara, du hast den Menschen Hoffnung gegeben in einem Kampf, den sie für verloren hielten. Überall in Moorwin regt sich der Widerstand, weil es einem einfachen Mädchen aus Ostinja gelungen ist, einen Lichtträger zu töten. Und nun, sieh dich an. Ein gläsernes Schwert wird für dich geschmiedet, aus einem ihrer Flügel. Eine Waffe, die den Kampf entscheiden könnte, wenn sie den richtigen Gegner findet.“
„Es gibt Kämpfe?“, fragte ich verdattert. Die Vorstellung, dass sich allerorts Menschen gegen die Priester und Lichtträger erhoben, war so … ungewohnt, dass ich es kaum glauben konnte.
Lurian nickte schwer. „Ja, sie kämpfen. Vor allem in den Grenzgebieten, doch überall in Moorwin gibt es Aufstände. Wulfrins Tor quillt über vor Flüchtlingen. Die Priester sind dort zwar in der Unterzahl, aber sie können jederzeit einen Lichtträger zu sich rufen und dann wird auch Wulfrins Tor untergehen. Die Karten sind nicht gerecht gemischt in diesem Kampf.“
Ich merkte kaum, dass meine Hände zitterten oder dass ich direkt vor ihn getreten war und flehend zu ihm hochschaute. „Ich will es sehen. Kannst du mich nach Wulfrins Tor bringen?“
Lurian warf einen unsicheren Blick hinter mich, als erwarte er, dass dort jemand auftauchte. Ich wusste genau, an wen er dachte, doch es war Tag und Arun schlief. Bei dem Engel würde ich sicher sein.
„Du vertraust sehr schnell“, sagte er zögernd.
Ich sah ihn finster an. „Warum solltest du mir schaden?“
Lurian hob seine Flügel an, ein nachdenklicher Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. „Ja“, sinnierte er laut, „warum sollte ich?“
Die Art, wie er es sagte, verunsicherte mich. Es klang beinahe wie eine Drohung. Unwillkürlich machte ich einen Schritt zurück. „Du … du hasst die Lichtträger, hat Arun gesagt.“
Lurian folgte mir auf dem Fuße. Er beugte den Kopf und sah mir prüfend in die Augen. „Hat er das gesagt, der Dämon.“ Dann lehnte er sich zurück und kreuzte die Arme vor der Brust. „Weshalb sollte ich dich nach Wulfrins Tor bringen?“
Ich blinzelte. „Ich fühle mich für die Menschen dort verantwortlich. Schließlich ist es meine Schuld, dass die Unruhen ausgebrochen sind und die Lichtträger Gibbons Tal überfallen haben. Bitte“, flehte ich, als Lurian sich nicht regte. „Bitte, bring mich dorthin. Hier gibt es nichts, das ich tun kann, und ich hasse es, mich nutzlos zu fühlen.“
Der Engel seufzte, legte den Kopf schräg und lächelte schließlich. „Dir einen Wunsch abzuschlagen“, sagte er kopfschüttelnd, „ist geradezu unmöglich. Komm, Cara.“
Ich trat auf ihn zu und fasste nach seiner ausgestreckten Hand. Meine Finger schlossen sich um Lurians und im nächsten Augenblick war ich von einem brausenden Licht erfüllt, das durch meinen Körper rauschte wie ein tosender Wasserfall. Es war vollkommen still, so still, dass ich mich selbst klarer denn je hören konnte. Für wenige Sekunden schwebte ich staunend in einem weißen Nirgendwo aus Ruhe und Frieden, so als sei ich nach einer langen, stürmischen Reise endlich heimgekehrt.
Einen Herzschlag später brach der Lichtstrahl ab. Ein Meer aus Lärm und verschiedenen Gerüchen schlug über mir zusammen, gefolgt von einer Salve von Bildern. Menschen waren hier, so viele Menschen, dass ich das Gefühl hatte, von ihren Körpern erdrückt zu werden. Sie waren allesamt schmutzig, sahen verwahrlost und hungrig aus und sie stanken. Sie kauerten zwischen Schneewehen und Abfall und drängten sich an Hausecken und unter Torbögen aneinander, um dem scharfen Wind zu entgehen, der durch die Gassen pfiff. Ich sah Kinder, die barfuß zwischen den Leuten hin und her liefen, um zu betteln oder zu stehlen oder sich möglichst unauffällig an die wärmeren Leiber zu drängen.
„Dies“, sagte Lurian neben mir, „sind die Armenviertel von Wulfrins Tor. Die meisten von ihnen sind Flüchtlinge aus Gibbons Tal.“
Erschüttert sah ich mich nach allen Seiten um. Beim
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