Caravan
Jahren hier. Jetzt muss ich mich wieder als Lohnsklave abrackern. Geld verdienen. Geld ausgeben. Scheißdreck kaufen. Mich
wieder den Klauen des Materialismus ausliefern.« Er zündete sich die Zigarette wieder an, die an seiner Lippe klebte. »Ein
paar sind schon nach Sheffield und Leeds gegangen. Thunder, Torrent, Sparrowhawk, Midge. Arbeiten in Callcentern. Die Ausbeuterbetriebe
des Informationszeitalters, sagt Jimmy.«
»Keine Angst«, tröstete ihn Heather. »Dich wird keiner auch nur in die Nähe eines Callcenters lassen.«
Oben auf dem Hügel traten wir aus dem Wald auf ein großes, steiniges, heidebewachsenes Plateau.
Heather erklärte: »Calluna vulgaris. Ericaceae. Meine Lieblingspflanze. Riecht ihr sie?«
Ich beugte mich vor und wollte gerade einen Zweig abpflücken, doch Heather hielt mich zurück. »Sie steht unter Naturschutz.
Du musst schon direkt am Strauch daran riechen.«
Also bückte ich mich und atmete tief ein. Die Pflanze roch nach Sommer und Honig. Und ich verstand, warum er sie als seinen
Kampfnamen gewählt hatte. Die lila Blüten waren so klein, dass sie von weitem aussahen wie violetter Dunst, der über die Hügel
schwebte.
Wir gingen weiter, durch ein kleines Wäldchen, Eschen, Buchen und Weißbirken, und schließlich erreichten wir eine flache,
grasbewachsene Lichtung von etwa fünfzehn Metern Durchmesser. Mitten auf der Wiese stand ein Kreis von neun Findlingen.
Ich war ein bisschen enttäuscht. Ich hatte etwas Größeres, Beeindruckenderes erwartet, so etwas wie Stonehenge. Aber |350| die Felsbrocken hier waren schief und unterschiedlich groß, wie schlechte Zähne. Sie sahen überhaupt nicht wie Ladys aus.
Wer die Sophienkathedrale gesehen hatte oder das Lavra-Kloster bei Sonnenuntergang, oder sogar manche englischen Monumente,
der konnte diese Steine wirklich nicht sehr interessant finden. Aber dann sagte Heather: »Eisenzeit. Dreieinhalbtausend Jahre
alt. Das sind die Vorgänger unserer großen Kathedralen.«
Ich schätze, das war doch interessant.
»Hier oben kann man den Geistern zuhören«, sagte Rock und warf sich mit ausgestreckten Armen und Beinen rücklings in der Mitte
des Kreises auf den Boden. »Manchmal, wenn ich ganz still liege, habe ich das Gefühl, ich könnte Jimmy Binbag reden hören.
Kommt her und legt euch hin und lauscht.«
Und so legten wir vier uns hin, wie ein Kreuz, die Köpfe in der Mitte, unsere ausgestreckten Hände und Füße berührten sich
beinahe. Ich rechnete damit, dass gleich einer von ihnen einen seltsamen Gesang anstimmen würde, aber das taten sie nicht.
Und so lag ich einfach nur da und sah in den Himmel und lauschte dem Wind, der im Gras raschelte. Die Wolken waren schwer,
violett und voller Regen, nur hier und da brachen jähe Lichtstrahlen durch, golden und silbern wie Engelsboten. Ich spürte
die Nähe der anderen,
er
zu meiner Linken und Heather zu meiner Rechten, und die Stille der Steine. Dann begann auch ich in der Stille die Nähe all
der anderen Menschen zu spüren, die über die Jahrtausende genau hier gestanden und gelegen und dieselben Steine und denselben
Himmel angesehen hatten. Ich hatte das Gefühl, ich könnte ihre Schritte und ihre Stimmen hören, kein Gerenne und Geschrei,
sondern das sanfte Trappeln und Plappern der Menschen, wie sie seit Anbeginn der Zeitrechnung auf unserer Erde lebten.
|351| Es erinnerte mich an meine Kindheit, als mein Bett im Wohnzimmer der kleinen Zweizimmerwohnung stand und ich abends beim Einschlafen
die Stimmen meiner Eltern hörte, und ihre leisen Bewegungen, wenn sie auf Zehenspitzen herumgingen, um mich nicht zu wecken
– Trappeln, Plappern.
Die Stille innerhalb des Steinkreises ist unheimlich. Sie hängt in der Luft wie die gigantische Ruhe in der Kathedrale nach
den Gebeten. Wenn man ganz still da liegt, kann man den Wind im Gras singen hören, wie Stimmen, die einem ins Ohr flüstern.
Andrij lauscht. Wirklich, es hört sich genauso an wie das Murmeln menschlicher Stimmen. Welche Sprache sprechen sie? Das Zischeln
der Silben klingt polnisch – ja, das sind Jola und Tomasz und Marta, die leise miteinander sprechen. Sie sind wieder in Zdroj.
Marta bereitet ein Festmahl vor. Jemand hat Geburtstag – ein Kind. Sie trinken Wein, Tomasz füllt die Gläser und spricht einen
Toast auf – Andrij versucht genau hinzuhören – der Toast ist auf Irina und ihn, auf ihre glückliche Zukunft. Tränen treten
ihm in die Augen. Im
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