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Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Hintergrund hört er ein Kichern und Flüstern – nicht polnisch, sondern   … ist es chinesisch? Plötzlich bricht das Kichern ab, und er hört Schluchzen. Das Schluchzen wird schriller, und auf einmal
     sieht er die Bergleute bei dem Grubenunglück, wie sie gegen die Masse von herabfallenden Steinen ankämpfen, die Hände nach
     ihm ausstrecken, an ihm zerren, flehen. Sein Vater ist unter ihnen, eingehüllt in den schrecklichen schwarzen Staub, formlos
     wie ein Geist. Andrij weiß, dass er rennen muss, nur weg von hier, aber er liegt am Boden und kann sich nicht rühren. Er ist
     wie gelähmt. Seine Glieder sind bleischwer, nur sein Herz schlägt, schneller, schneller. Doch in dem Moment, als ihn die Panik
     zu überwältigen droht, verwandelt sich das Schluchzen in |352| Musik, in eine Stimme – eine Knabenstimme   –, durchdringend und süß, friedlich und tröstend, und sie lindert den Schmerz und die Wut in seiner Seele mit dem Versprechen
     der Ewigkeit. Emanuel singt für ihn.
    Er erwacht mit einem Ruck und fragt sich – hat Blessing an den Telefonanruf gedacht?
     
    Vielleicht hatte ich geträumt, denn nach einer Weile stellte ich fest, dass das Trappeln Regentropfen waren, und das Plappern
     war Andrij, der sagte: »Wach auf, Irina. Wir gehen zurück. Es regnet.«
    Im Camp hatten die anderen bereits eine große Segeltuchplane zwischen den Bäumen aufgehängt, und darunter rauchte ein Feuer.
     Heather schälte Kartoffeln, und Rock rührte in einem Topf.
    »Kann ich helfen?«, fragte ich.
    Rock gab mir den Rührlöffel. Dann verschwand er.
    »Ich hole trockenes Holz«, sagte Andrij, und dann verschwand auch er.
    »Wo sind die anderen von eurer Gruppe?«, fragte ich Heather.
    Er erklärte, dass einige zu einem Musikfestival nach Süden gefahren waren, und andere, Rocks Freundin zum Beispiel, hatten
     vorübergehend Jobs in den benachbarten Städten angenommen, um ein bisschen Geld zu verdienen. Leider hatte seit dem Erfolg
     der Gerichtsanhörung die Unterstützung durch die Dörfer im Umkreis immer mehr nachgelassen, und vielleicht würden sie das
     Lager bald ganz auflösen müssen.
    »Wo wirst du hingehen?«, fragte ich.
    Er zuckte die Schultern. »Es gibt immer Orte, wo wir gebraucht werden. Straßen. Flughäfen. Kraftwerke. Die ganze Erde steht
     unter Beschuss.«
    Ich dachte, wie schön es wäre, ein paar neue Straßen und |353| Flughäfen und Kraftwerke in der Ukraine zu haben, doch diesen Gedanken behielt ich für mich. Wir lauschten dem Prasseln des
     Regens auf der Plane und dem Knacken der Holzscheite im Feuer. Irgendwo spielte jemand Gitarre.
    »Kochst du gern?« Heather warf eine Handvoll kleingeschnittener Karotten in den Topf. Seine Fingernägel waren sehr lang, fast
     wie Krallen, und sehr schwarz.
    »Nicht besonders«, sagte ich.
    »Ich auch nicht«, sagte er. »Aber ich esse gern. Früher in Renfrewshire hatten meine Eltern eine Köchin namens Agatha. Sie
     war eins achtzig groß und fluchte wie ein Bierkutscher, aber sie konnte wunderbar backen. Einmal hat sie gerade Obsttörtchen
     gebacken, da ist der Ofen explodiert. Sie kam mit Verbrennungen dritten Grades ins Krankenhaus und war eine Woche später tot.
     Das reicht, um einem das Kochen zu verleiden, findest du nicht?«
    »Aber wirklich«, sagte ich lachend, trotz der traurigen Geschichte, und fragte mich, ob sie stimmte. Und ich fragte mich,
     wie ein Mensch, der so kultiviert sprach und aus einem Haus mit einer Köchin kam, einen Ort wie diesen und Essen wie dieses
     ertragen konnte, und wie dieser Mensch so dreckige Fingernägel haben konnte. Und ich fragte mich, ob er eine Freundin hatte,
     und ob sie auch hier im Camp lebte, und was sie von seinen Fingernägeln hielt. Und ich fragte mich, ob er mich nicht attraktiv
     fand, weil er mich, genau wie Rock, nie anstarrte oder mit mir flirtete oder persönliche Bemerkungen machte wie manche anderen
     Männer, so dass ich mich in ihrer Gegenwart vollkommen wohl fühlte. Vielleicht finden sie nur Frauen ihrer eigenen Spezies
     attraktiv.
     
    Anscheinend hat die Frau mit den schönen Brauen ein Auge auf dich geworfen, Palenko – aber bedeutet das, dass du darauf reagieren
     musst? Ihr habt über das Wetter gesprochen. |354| Ihr habt über die Steine gesprochen. Sollst du jetzt den ersten Gang einlegen und versuchen zu beschleunigen? Oder sollst
     du dir sagen, hey, ich habe die Frau gefunden, die ich liebe. Das reicht. Bye-bye, Ende, aus.
    Während Andrij sich den Brei aus dem Topf

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