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Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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HUND BRINGT NASSEN SCHUH ZU SAURE-PISSE-STARKER-FÜSSEGERUCH-MANN ER IST FROH
     GUTER HUND ER SAGT ICH BIN GUTER HUND ICH BIN HUND
     
    Nach dem Mittagessen ist Andrij schlecht. Diese Sardinen in Tomatensoße – sie waren lecker, aber vielleicht hätte er nicht
     so viele essen sollen. Während die anderen zu Fuß zum Fährhafen gehen, breitet er sein Handtuch auf dem Kiesstrand aus und
     legt sich in die Sonne. Hund legt sich neben ihn. Das träge Kommen und Gehen der Wellen am Wasserrand ist beruhigend. Hund
     schläft sofort ein und schnauft und schnarcht so rhythmisch wie das Meer. Andrij ist todmüde, aber immer wenn er fast eingeschlafen
     ist, überfällt ihn eine flatternde Panik und er wacht wieder auf.
Ich habe nichts getan
. Das Linksfahren, die anstrengenden Passagiere, der aufmüpfige Wohnwagen, der Streit mit Ciocia Jola und eine nagende, verschwommene
     Nervosität, die in seinem Kopf herumspukt wie ein Nebel, ohne Form anzunehmen, von all dem ist er völlig erschöpft, doch er
     kommt einfach nicht zur Ruhe.
    Aber anscheinend ist er doch weggedöst, denn plötzlich |96| lässt ihn ein donnerndes Krachen, wenige Meter von ihm entfernt, hochfahren. Das Blut stockt ihm in den Adern, dann fängt
     sein Herz wild zu hämmern an. Noch halb im Schlaf lauscht er dem alptraumhaften Getöse – ein langsames Anschwellen, ein furchtbar
     widerhallendes Dröhnen, ein langsam verebbendes Rumpeln. Es ist das langgezogene Gebrüll der Erde, die vor Schmerz laut aufschreit.
     Es ist das Donnern des Stollens, der in der Finsternis unter Tage einstürzt.
    Er setzt sich auf, reibt sich die Augen. Da ist nichts. Nichts außer den Wellen, die wenige Zentimeter vor seinen Füßen auf
     den Kies klatschen. Die Flut ist da. Doch im Augenblick des Erwachens hat er das Grauen nochmals erlebt, die brausende Schwärze,
     den Lärm und den Staub, und die Gewissheit, dass sein Vater da nicht lebend herauskommen wird.
    Dieses Geräusch – nein, er kann nie wieder unter Tage arbeiten. Er kann nicht zurück. Er hatte nie Bergmann werden wollen.
     Lieber wäre er in der Schule geblieben und hätte studiert und wäre Lehrer geworden oder Ingenieur. Aber als er sechzehn war,
     hat sein Vater ihm die Spitzhacke in die Hand gedrückt – die Zeit der Maschinen war längst Vergangenheit – und zu ihm gesagt:
     »Lerne, Sohn. Lerne, ein Mann zu sein.«
    Mit der frechen Klappe eines Teenagers, für die er sich heute noch schämt, hatte Andrij damals erwidert: »Ein Mann – ist das
     einer, der in der Erde wühlt wie ein Tier?« Und sein Vater antwortete: »Ein Mann ist einer, der Brot nach Hause bringt, die
     Sicherheit seiner Kameraden über die eigene stellt und sich nicht beklagt.« Im Donbass gab es nur eine Möglichkeit, Brot nach
     Hause zu bringen. Als beschlossen wurde, dass die Grube unwirtschaftlich war, half weder die internationale Solidarität noch |97| die Bergbaugewerkschaft. Und so waren sie allein unter Tage gegangen und hatten sich selbst geholfen. Man muss schließlich
     leben, oder? Als der Stollen einstürzte, hatte Andrij überlebt, er und zwei andere. Sechs waren umgekommen. Außerhalb des
     Donezbeckens hatte die Geschichte nicht mal für eine Schlagzeile gereicht.
    Warum er? Warum hat er überlebt, während die anderen gestorben sind? Weil die Stimme in seinem Kopf sagte, lauf, wenn du leben
     willst, lauf – lauf immer weiter. Schau nicht zurück.
    Er sieht, dass sich am Horizont eine graue Wolkenbank zusammenzieht.
    Warum Sheffield? Weil Sheffield der Ort ist, wo es rosa Nachtisch gibt und Mädchen, die einem Zungenküsse geben. Und diesen
     blinden Mann, die Sanftmut in seiner Stimme, als er die Fremden in seiner Stadt willkommen hieß, die Art, wie er Andrijs Hand
     festhielt und ihm direkt ins Herz zu sehen schien, obwohl er natürlich nicht sehen konnte. Ja, jetzt erinnert er sich wieder,
     Vlunki war sein Name.
    Und was machst du, wenn du in Sheffield bist? So weit hat er noch nicht gedacht. Morgen wird er nach Irina suchen, und sobald
     er sie gefunden hat, macht er sich auf den Weg.
     
    Egal wie lange Vulk wartete, ich würde länger warten.
    Aus meinem Laubversteck sah ich zu, wie die Sonne ihren trägen Bogen am Himmel beschrieb, von den waldigen Hügeln im Osten
     über den sanft gewellten Flickenteppich der grünen und goldenen Felder bis zum Horizont auf der anderen Seite. Es war seltsam,
     denn obwohl ich dem Fortschreiten der Sonne zusah, schien in mir die Zeit stillzustehen. Ich wartete –

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