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Caravan

Titel: Caravan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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wartete und versuchte
     dabei, nicht über den Grund meines Wartens nachzudenken, denn der Gedanke war so |98| schrecklich, dass ich fürchtete, wenn ich ihn erst einmal im Kopf hatte, würde ich ihn nie mehr loswerden. »
Gefällt dir, Blume?«
    Wenn ich wieder in Kiew bin, dachte ich, schreibe ich ein Buch darüber. Einen Thriller über die Abenteuer einer schneidigen
     Heldin, die vor einem finsteren, aber lächerlichen Gangster durch England flieht. Mir ihre Geschichte auszumalen, half mir.
     Wenn man eine Geschichte schreibt, entscheidet man über das Ende selbst.
    Während die Sonne über den Himmel wanderte, bildeten sich in ihrem Kielwasser streifige Wölkchen, die langsam dichter und
     schwerer wurden. Seltsam, ich hatte nie zuvor bemerkt, wie ausdrucksvoll Wolken sein konnten, wie Menschen, die sich verändern,
     altern, auseinanderdriften.
    Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder öffnete, war die Sonne verschwunden, und was ich für
     eine Hügelkette gehalten hatte, blau am Horizont, war in Wirklichkeit eine lange Wolkenbank, die inzwischen den Himmel verschluckt
     hatte. Bald würde es regnen. Ich war am Verhungern. Wenn ich nicht bald etwas zu essen bekam, dachte ich, würde ich ohnmächtig
     werden.
    Schließlich kletterte ich aus meiner Höhle und spähte den Waldweg hinunter. Dort, wo ich vorher etwas in der Sonne hatte blitzen
     sehen, war jetzt nichts als grünes Laub. War er fort, oder lag es nur daran, dass die Sonne nicht mehr schien? Versteckte
     er sich, wartete? Vielleicht lauerte er in Zukunft überall, wo ich hinging.
Stopp. Denk das nicht. Wenn du das denkst, bist du seine Gefangene, lebenslänglich.
    Zuerst musste ich etwas zu essen finden. Ich sah mich um. Hier gab es Bäume, Büsche, Gras, Blätter. War irgendwas davon genießbar?
     Ich rupfte eine Handvoll Gras ab – wenn Kühe sich davon ernährten, musste es essbar sein. Ich kaute auf dem Gras herum, aber
     ich schaffte es nicht, es herunterzuschlucken |99| . Da war ein Busch mit roten Beeren, die giftig glänzten.
Mama, Papa, ihr kennt euch mit so was aus. Sei nicht dumm, Irina. Du weißt, dass du keine Beeren oder Pilze essen darfst,
     wenn du dir nicht absolut sicher bist. Wie oft soll ich dir das noch sagen?
    Während ich noch darüber nachdachte, wanderte ich den Weg zurück. Bei Tag wirkte die Strecke viel kürzer. Ich schlüpfte durch
     die Hecke und ging auf der anderen Seite, auf dem Feld, damit mich keiner sah. Unten, wo der Weg breiter wurde, stand ein
     alter Picknicktisch mit zwei Holzbänken, an denen ein paar Bretter fehlten. Es war kein Auto da, aber es gab viele Reifenspuren.
     Entweder war er mehrmals zurückgekehrt oder es waren noch andere Leute hier gewesen. Ich sah mich um. Da, neben einer der
     Reifenspuren, lag der Stummel einer Zigarre. Mein Herz begann zu hämmern – bumm, bumm. Ich dachte an die Zigarre, die er am
     Abend geraucht hatte. War es dieselbe? Oder war er noch einmal zurückgekommen? Hatte er hier irgendwo in seiner Mafiakutsche
     gesessen, Zigarren gepafft und auf mich gewartet?
»Kleinerr Blume   …
« Heftig zertrat ich den Zigarrenstummel, bis seine Überreste im Gras verschwunden waren. Und dort lag noch etwas, ein graues
     Stück Gummi. Es sah aus wie ein Teil von einem Schuh. Was für ein Gestank! Aber Vulks Schuhe waren glänzend und schwarz gewesen.
    Dann entdeckte ich unter dem kaputten Tisch eine zerknüllte Papiertüte. Ich wusste sofort, was es war. So ein Glück! Ich hob
     sie auf. Dieser Duft! Ich konnte nicht anders. Wie ein Hund fing ich zu sabbern an. Ich wickelte das Päckchen auf und zählte.
     Eins, zwei, drei   … so viele! Ich stopfte sie mir in den Mund. Mein Magen knurrte glücklich. Sie waren kalt und steif, wie die Finger eines
     Toten. Aber sie schmeckten absolut köstlich. Und da war noch etwas |100| unter den Pommes. Golden, knusprig. Ich brach ein Stück ab und ließ es mir auf der Zunge zergehen. Es war wie Manna. Es war   … nichts mehr da.
    Dann dachte ich, was für ein Dummkopf bist du bloß, stehst hier am Straßenrand, wo dich jeder sehen kann, und stopfst den
     Abfall anderer Leute in dich rein. Wenn Mutter dich so sehen könnte   …
Aber sie sieht dich nicht, oder?
    Der Abfall   … wessen Abfall? Hatte er die Pommes frites gestern Abend im Auto dabeigehabt? Nein, das hätte ich gerochen. Also musste jemand
     anders sie weggeworfen haben. Oder er war weggefahren, um sich etwas zu essen zu holen, und dann war er

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