Caravan
winkt ihn raus, als er von dem bewaldeten Picknickplatz rückwärts auf die Straße manövriert. Jola, Marta und die chinesischen
Mädchen sitzen hinten im Landrover, den Hund zu ihren Füßen. Tomasz ist im Wohnwagen und versucht ein bisschen Schlaf nachzuholen.
Doch als sie erst mal auf der Hauptstraße sind, wird das Fahren leichter. Und irgendwie macht es Spaß, etwas so Schweres zu
schleppen. Er muss vorausschauend fahren, jähe Manöver vermeiden. Bis sie die Umgehungsstraße von Canterbury erreichen, hat
er ein Gefühl dafür entwickelt. Doch plötzlich entdeckt er ein Stück voraus auf der Straße einen Streifenwagen, zwei Polizisten
kontrollieren den durchfahrenden Verkehr. Heiliger Strohsack! Sind sie ihm schon auf der Spur? Er biegt scharf links ab und
gibt Gas, dann merkt er, dass sie auf einer Einbahnstraße ins Stadtzentrum gelandet sind. Der Wohnwagen hinter ihm hüpft |88| und schwankt, und im Landrover schreien alle verschiedene Anweisungen durcheinander, wo er hinfahren soll. Das Geschrei ist
vollkommen sinnlos. Es lenkt ihn nur ab. Hier geht es nirgendwohin als geradeaus.
Auf einmal stecken sie in einem Labyrinth von schmalen Gassen. Überall parken Wagen, und Fußgänger schlendern auf der Straße,
ohne auf den Verkehr zu achten. Was für ein Alptraum! Und das Linksfahren ist auch nicht ohne. Wie kommt er bloß auf die Ringstraße
zurück? Er biegt rechts ab und zwängt den Wohnwagen durch einen schmalen Torbogen, vor dem vielleicht ein »Durchfahrt verboten«-Schild
stand, aber jetzt ist es zu spät, und plötzlich schreit Marta: »Stopp! Stopp!«
Andrij steigt auf die Bremse. Der Wohnwagen bockt und kippt fast um. Merk dir, dass du das nicht wieder tust, Andrij Palenko.
Beim nächsten Mal sanft pumpen. Aus dem Wohnwagen kommt ein Krachen und ein Fluchen, und kurze Zeit später stolpert Tomasz
in Socken und Unterhosen auf die Straße und reibt sich den Schlaf aus den Augen.
»Was ist passiert? Warum halten wir?«
»Ich weiß nicht«, sagt Andrij. »Warum halten wir?«
»Seht doch!« Marta zeigt mit dem Finger.
Andrij steigt aus und stellt sich neben die anderen auf den Bürgersteig. Alle blicken nach oben. Vor ihnen türmt sich eine
riesige, sahnige Masse aus verwittertem, behauenem Stein, Spitzbogen über Spitzbogen wie ein seltsam gemustertes Spitzengewebe,
zart wie Papier, das höher und höher in den Himmel ragt, und die ernsten Figuren uralter Heiliger blicken von ihren Sockeln
zu ihnen herab.
Er kennt die goldenen Kuppeln der Kirchen in Kiew, die wunderbaren Türme von Lavra, aber das hier ist etwas anderes – ja,
das ist etwas ganz anderes. Keine Farbe, kein Gold. All die Schönheit nur in Stein. Wie hätte es sich wohl |89| angefühlt, dort oben zu arbeiten, unter dem Himmel, mit Hammer und Meißel an diesem leuchtenden Stein zu arbeiten anstatt
in der finsteren Unterwelt der Kohleflöze? Wäre dort oben ein anderer Mann aus ihm geworden – so nah bei den Engeln?
Er senkt den Kopf und bekreuzigt sich auf die orthodoxe Art, nur für alle Fälle. Keiner sagt ein Wort. Marta schließt die
Augen und schlägt ebenfalls das Kreuz. Jola zupft sich den Rocksaum über die Knie und bekreuzigt sich mit beiden Händen. Tomasz
geht zurück in den Wohnwagen und zieht sich eine Hose an. Die chinesischen Mädchen staunen nur.
Emanuel flüstert Andrij zu: »Was sind das für Biesterige und Kobolde? Warum haben sie Symbole von Hexerkunst auf eine christliche
Kirche gesetzt?«
»Keine Angst«, flüstert er zurück. »Alles okay.«
Liebe Schwester,
heute wurde ich mit der Visitation der Kathedrale von Canterbury gesegnet, eines vorzüglichen Bautums ganz aus Stein und wundersam
geschmückt mit furchterregenden Teufeln und Kobolden, welche mit offenem Rachen auf den Dächern hocken. Das Innere aber ist
von geheimnisvollem Frieden erfüllt, denn die Kathedrale hat viele wunderbare Fenster, wie ich sie nie zuvor sah, nicht einmal
in Sankt Peter auf Likomo, und sie färben das Sonnenlicht rot und blau und erzählen Geschichten von Unserem Herrn Jesu und
Seinen Heiligen, in farbenprachtvoller Kunstfertigkeit.
Und also kam ein Priester über uns und fragte, ob wir beten wollten, und ich hatte Angst, am protestantischen Glauben teilzunehmen,
aber unsere liebe Marter flüsterte, dass alle Kathedralen eigentlich unserer Einen Guten Religion gehörten und einst von den
sündhaften Protestanten
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gestohlen wurden. Also gingen wir in eine kleine
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