Carina - sTdH 3
Godolphin in einer Droschke zurückbegleiten.«
»Wir saßen
die ganze Zeit in der Kutsche und haben uns über Shakespeares Werke
unterhalten«, sagte Lord Harry, »und darüber die Zeit vergessen. Wie Sie sehen,
hat Miss Carina keinen Schaden genommen.«
»Komm
hierher, Mädchen«, bellte der Vikar plötzlich. »Und steh nicht in der Tür
herum.«
Carina kam
näher, die Hand am Hals.
»Sagt Lord
Harry die Wahrheit?« fragte der Vikar.
»Ja, Papa«,
sagte Carina.
»Komm
näher.«
Der Vikar
blickte seiner Tochter ins Gesicht, und dann schoß sein Arm plötzlich vorwärts,
und er riß Carina die Hand vom Hals.
Alle Augen
hefteten sich auf den sichtbar gewordenen purpurroten Bluterguß.
Die Augen
des Vikars glitzerten wie zwei schwarze Diamanten in seinem zorngeröteten
Gesicht.
»Wie kommst
du denn dazu?« fragte er leise.
»Zu ... zu
was?« Carina versuchte, harmlos dreinzuschauen, mit dem Erfolg, daß ihr Blick
geradezu bejammernswert schuldbewußt war.
»Antworten
Sie«, fuhr der Vikar Lord Harry an.
»Nein, ich
antworte«, sagte Carina schnell. »Ein Mann sprang auf dem Ball in unsere Loge,
als Lord Harry Erfrischungen holte, und ... er hat versucht, mich zu küssen,
und bei dem Gerangel habe ich diesen Bluterguß abbekommen.«
»Da soll
mich der Teufel holen, wenn das wahr ist«, sagte der Vikar kalt.
»Papa!«
schrie Minerva auf. »Was für eine Ausdrucksweise.«
»Gewöhn dich daran«, sagte
ihr Vater. »Ich glaube, es kommtnoch
schlimmer. Nun, Desire, was haben Sie für eine Erklärung?«
Lord Harry machte
eine entschuldigende Handbewegung undwarf einen
reuevollen Blick in Carinas Richtung.
»Es fällt
mir sehr schwer zu lügen«, sagte er. »Die Wahrheit ist, daß ich Ihre Tochter in
den Armen hielt und sie küßte, und ich bedaure sagen zu müssen, daß ich mich
vergaß.«
»Wo fand
das statt, Sir? In der Kutsche?«
Glockenrein
drang Lord Harrys Stimme durch den Salon.
»In meiner Wohnung, Mr. Armitage.«
Mit
blitzenden Augen machte Lord Sylvester eine schnelle Bewegung auf Lord Harry
zu. Carina warf sich dazwischen.
»Es war
alles meine Schuld«, keuchte sie. »Ich habe mit ihm ziemlich ungeniert
geflirtet. Ich habe ihn herausgefordert.«
Lord Harry
ließ seine Hände auf ihre Schultern sinken und zog sie an sich.
Dann legte
er sein Kinn auf ihren Kopf und schaute die empörte Gesellschaft belustigt an.
Trotz ihrer
Angst und Aufregung lehnte sich Carina dankbar zurück, und es schoß ihr durch
den Kopf, daß sie jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben Minerva sprachlos sah.
»Jetzt ist
es heraus«, sagte Lord Harry. »Ich habe Ihre Tochter arg kompromittiert. Wir müssen
so bald wie möglich heiraten.«
»Allerdings«,
knurrte der Vikar drohend. »Kommen Sie mit, Lord Harry. Sie haben mir eine
Menge zu sagen.«
Lord Harry
hob Carinas Hand an seine Lippen und küßte sie.
Sie blickte
verwirrt und ganz benommen zu ihm auf. Sie liebte ihn. Er wollte sie doch
heiraten. Das Bild von John und Betty fuhr ihr durch den Sinn, und sie
erschauerte. Wie konnte sie den Mann so sehr lieben und doch solche Angst vor
der Hochzeitsnacht haben?
Elftes
Kapitel
Silas
Dubois hielt eine
kleine emaillierte Schnupftabaksdose in der Hand. Sie hatte eine Menge Geld
gekostet, und Silas gab nicht gern Geld aus – außer für sich selbst.
Er wartete
in einem düsteren ebenerdigen Salon in Mr. Blewetts Haus; er wartete darauf,
vorgelassen zu werden.
Mr. Blewett
hatte Silas mitteilen lassen, daß er sein Testament endgültig zu Silas' Gunsten
geändert habe. Das war gut. Aber bei seinem letzten Besuch hatte Mr. Blewett
darauf bestanden, daß Silas Lord Harry von diesem Umstand in Kenntnis setze.
Ein
Katz-und-Maus-Spiel, dachte Silas gereizt.
Die
Schnupftabaksdose war ein teures Mitbringsel, das Mr. Blewett daran erinnern
sollte, daß er seine Geldsäcke dem hinterließ, der ihn am meisten schätzte.
Silas
Dubois hatte Lord Harry eine Weile nicht gesehen und hatte nicht die Absicht,
ihn jetzt aufzusuchen und ihm von dem geänderten Testament zu erzählen.
Denn was
wäre, wenn Desire stehenden Fußes ans Bett seines Onkels käme und den alten
Narren so umschmeichelte, daß dieser sein Testament noch einmal änderte?
Ein Lakai
trat ein und sagte Silas Dubois, daß Mr. Blewett bereit sei, ihn zu empfangen.
»War der
Arzt heute da?« fragte Silas begierig, als er hinter dem Diener die Stufen
hinaufging.
»Ja, Sir.«
»Und was
meinte er?«
»Das weiß
ich ganz sicher nicht, Sir«, sagte der Lakai
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