Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
keinen Zweifel. Wie früher trug er eine Tweedjacke mit Lederknöpfen, wie früher klemmte eine braune Aktentasche unter seinem Arm. Auf den ersten Blick ein Mann, der sich nicht verändert hatte, und doch konnte sie an seiner Körpersprache ablesen, dass etwas nicht mehr so war wie früher.
Er ging zwischen den Kastanien auf und ab, blickte über den See und legte den Kopf in den Nacken. Zog ein Taschentuch aus der Jackentasche und fuhr sich ein paarmal mit der Hand übers Gesicht, als wischte er Schweiß oder Tränen ab.
In dem Moment fiel ihr auf, dass ihm die Jacke zu groß war, dass sie an den Schultern hässliche Falten warf, genau wie die Hose an den Knien. Offenbar hatte er die Kombination gekauft, als die Zeiten besser gewesen waren, was sich bis ins Körperliche ausdrückte.
Für einen Moment tat ihr der Mann leid, der dort nichtsahnend stand, den einen Fuß schon auf dem Schafott.
Und wenn er nun Kinder hatte, die ihn liebten? Enkel?
Kinder, nur dieses eine Wort brauchte es, und sie ballte die Fäuste. Hatte sie denn jemals Kinder bekommen, die sie liebten? Und wessen Schuld war das?
Nein, sie musste sich um sich selbst kümmern und hart bleiben. Morgen Nachmittag würde sie dieses Leben hier hinter sich lassen, und das ging nur, wenn sie das hier zu Ende brachte. Schriftlich hatte sie einem Mann, der von Beruf Anwalt war, zehn Millionen Kronen in Aussicht gestellt, und so ein Mann würde sie garantiert nicht ziehen lassen, ohne dass sie das Versprechen eingelöst hatte.
Jedenfalls nicht Philip Nørvig.
Nun stand er vor ihr, nicht ganz so groß, wie sie ihn in Erinnerung hatte, und blickte sie an wie ein reuiger Welpe, die Stirn in Falten gelegt, die Augenbrauen hochgezogen. Als ob ihm dieses Treffen und der erste Eindruck, den er ihr von sich vermittelte, unendlich wichtig wären.
Damals, als er vor Gericht gelogen und sie dazu gebracht hatte, Dummheiten zu sagen, war der Ausdruck seiner Augen bedeutend härter und kälter gewesen. Nicht ein einziges Mal hatte er geblinzelt oder sich von ihren Gefühlsausbrüchen und ihren Tränen aus dem Konzept bringen lassen.
Waren das tatsächlich dieselben Augen? Damals so kompromisslos, blickten sie heute unsicher zu Boden, als Nete ihn einzutreten bat. War das tatsächlich dieselbe Stimme, damals so unversöhnlich, mit der er sich jetzt bedankte?
Sie fragte ihn, ob er Tee haben wolle, und er nahm das Angebot mit höflichem Dank und einem scheuen Blick in ihre Richtung an.
Sie reichte ihm die Tasse und sah zu, wie er sie ohne ein Wort leerte. Einen Moment runzelte er die Stirn.
Vielleicht schmeckt ihm der Tee nicht?, dachte sie, aber dann reichte er ihr die Tasse und bat sie, nachzuschenken.
»Ja, entschuldigen Sie, Frau Hermansen, aber ich muss mich stärken, denn ich habe so viel zu sagen.«
Dann hob er den Kopf, sah ihr endlich ins Gesicht und fing an, all die Dinge auszusprechen, die besser ungesagt geblieben wären, denn der Zeitpunkt dafür war lange verstrichen.
»Als ich deinen Brief bekam ...« Er hielt inne. »Verzeihung, darf ich Du sagen?«
Sie nickte nur. Um ihre Zustimmung hatte er sich früher nicht geschert, warum jetzt?
»Als ich deinen Brief bekam, Nete, war ich plötzlich mit etwas konfrontiert, das ich seit Langem bedauere. Etwas, das ich gern wiedergutmachen möchte, falls das überhaupt möglich ist. Ich will gern zugeben, dass ich auch des Geldes wegen nach Kopenhagen gekommen bin, weil ich hoffe, damit meine Existenz und die meiner Familie retten zu können. Dass mir das Geld etwas bedeutet, kann ich nicht leugnen, aber primär bin ich gekommen, um mich zu entschuldigen.« Er räusperte sich und trank noch einen Schluck Tee.
»In den letzten Jahren habe ich oft an das verzweifelte Mädchen gedacht, das vor seiner Zwangseinweisung in die Anstalt von Brejning die Hilfe des Gerichts suchte. An dich, Nete. Und ich habe mich gefragt, wie ich imstande war, sämtliche deiner Anschuldigungen gegen Curt Wad abzuwehren. Denn ich wusste doch, dass du recht hattest. Die Behauptung, du seist geistig minderbemittelt und gefährlich, passte ja überhaupt nicht zu dem Mädchen, das dort im Gericht saß und um sein Leben kämpfte.«
Er senkte den Kopf. Als er ihn wieder hob, war er womöglich noch blasser als vorher.
»Ich habe die Gedanken an dich von dem Moment an verdrängt, als die Verhandlung überstanden war. Ich hatte keinerlei Erinnerung an dich bis zu dem Tag, an dem ich in der Zeitung über dich las. Eine begabte und schöne
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