Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
Ohnmacht gefallen. Dann zeichnete sie ein Minuszeichen in den einen und ein Pluszeichen in den anderen Kreis.
»So. Ein positiver Kreis und ein negativer. Sie stellen sich jetzt bitte erst in den einen Kreis und dann in den anderen und sprechen jeweils genau denselben Satz. Im negativen Kreis tun Sie so, als würden Sie sich an einen Menschen wenden, den Sie nicht leiden können, und im positiven Kreis an jemanden, den Sie sehr gern haben.«
»Ach, das ist der Kurs? Okay, dann weiß ich schon Bescheid.«
»Na, dann lass uns mal hören«, schaltete sich Lis ein. Sie verschränkte die Arme unterm Busen und trat näher. Wer sollte da widerstehen?
»Nimm was Einfaches. Sag zum Beispiel: Du hast dir ja die Haare schneiden lassen. Sag es zuerst auf die nette, danach auf die unfreundliche Weise.«
»Verstehe ich nicht«, log Carl und musterte die beiden Frauen mit ihren Kurzhaarfrisuren, die unterschiedlicher nicht wirken konnten. Bei so einer Wettbewerbsverzerrung konnte er sich dieses komische Betonungsspielchen doch gleich schenken.
»Na, dann demonstrier ich jetzt mal die positive Variante«, sagte Lis, »und Cata kann dann die negative übernehmen.«
Umgekehrt würde ein Schuh draus, dachte Carl und schabte unauffällig mit dem Fuß über den Boden.
»Du hast dir ja die Haare schneiden lassen!« Lis' ganzes Gesicht schien beim Sprechen zu lächeln. »So sagt man das zu einem Menschen, den man mag. Und jetzt du, Cata.«
Die lachte und versuchte dann, ernst zu werden. » Du hast dir ja die Haare schneiden lassen.« Sie sah zum Fürchten aus. Fast wie in alten Zeiten.
Dann mussten beide schrecklich kichern. Was war das denn für ein Busenfreundinnenidyll?
»Aha. Wirklich ein erstaunlicher Unterschied. Aber was hat das mit dem Kurs zu tun?«
Frau Sørensen kriegte sich als Erste wieder ein. »Ganz einfach: Einerseits lernt man durch solche Übungen, zu verstehen, wie man mit Hilfe der Betonung seine Wirkung auf die Umgebung beeinflussen kann. Man wird also sensibel für die eigene Ausstrahlung. Und andererseits begreift man, was es mit einem selbst macht. Das ist zwar nur ein Nebeneffekt, aber doch nicht unerheblich.«
»Ist das nicht das, wozu man früher sagte: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus?«
»In gewisser Weise schon. Wissen Sie eigentlich, Carl, wie Sie selbst auf die Leute wirken?«
Na, das hab ich in der zweiten Klasse gelernt, dachte Carl.
»Manchmal kommen Ihre Äußerungen schon etwas schroff daher, Carl«, fuhr Frau Sørensen fort.
Danke für das Kompliment, und das ausgerechnet von dir , dachte Carl. »Danke, dass Sie das so rücksichtsvoll ausdrücken«, sagte er stattdessen, denn er wollte möglichst schnell verduften. »Ich werde darüber nachdenken.«
»Jetzt solltest du die Übung erst mal selbst ausprobieren, Carl. Tritt in einen der Kreise.« Lis sah zum Fußboden, um ihm zu bedeuten, in welchen der Kreise er zuerst treten sollte, und musste feststellen, dass Carl, während sie das Rollenspiel demonstriert hatten, die Kreidestriche mit den Schuhspitzen weggewischt hatte.
»Äh, das tut mir sehr leid. Guten Tag, die Damen. Immer heiter bleiben.« Damit entzog er sich ihrer Aura.
34
September 1987
A ls Nete am Fenster stand und hinausschaute, war ein Teil ihres Hasses verflogen. Es war, als wäre mit dem Schlag gegen Viggos Schläfe und mit seinen letzten schwachen Atemzügen ein Splitter aus ihrer Seele gezogen worden.
Sie ließ ihren Blick den Peblinge Dossering entlangwandern und betrachtete die vielen Spaziergänger, die dort am Seeufer das schöne Wetter genossen. All diese Schicksale! Wie viele von ihnen mochten dunkle Geheimnisse haben?
Netes Lippen fingen an zu zittern. Plötzlich war ihr alles zu viel. Auch Tage, Rita und Viggo waren doch Menschen des Schöpfers, und nun waren sie tot, gestorben durch ihre Hand.
Sie schloss die Augen und sah alles wieder vor sich. Viggos Gesichtsausdruck war so intensiv und herzlich gewesen, als sie die Tür geöffnet hatte. Tage hatte so dankbar gewirkt. Und nun kam Nørvig an die Reihe. Der Anwalt, der nicht hatte zuhören wollen, damals, als sie es am allermeisten gebraucht hätte. Dem Curt Wads guter Ruf wichtiger gewesen war als ihr Leben.
Aber hatte sie deshalb das Recht, ihm das Gleiche anzutun, was er ihr angetan hatte? Hatte sie das Recht, ihm das Leben zu stehlen?
Mit diesen Zweifeln im Sinn entdeckte sie unten am See den schmächtigen Mann.
Es waren mehr als dreißig Jahre vergangen, und doch gab es
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