Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
Frau hatte Andreas Rosen geheiratet.« Er nickte ihr zu. »Ja, ich habe dein Gesicht sofort erkannt, und plötzlich war mir alles wieder gegenwärtig. Und ich schämte mich entsetzlich.«
Er nippte wieder an seinem Tee. Nete sah zur Uhr. Noch wenige Sekunden, dann würde das Gift wirken. Aber das wollte sie nicht mehr, nicht jetzt. Konnte die Zeit nicht einfach stehen bleiben? Sie bekam doch gerade ihre Genugtuung. Wie konnte sie ihn einfach seelenruhig weitertrinken lassen? Er bereute tatsächlich, das war offensichtlich.
Als er weitersprach, sah sie weg. Sein vertrauensvoller Blick machte ihr bewusst, dass sie im Begriff war, Böses zu tun. Nie hätte sie damit gerechnet, dass solche Gefühle in ihr geweckt werden könnten. Solche Gefühle kannte sie nicht.
»Damals hatte ich bereits viele Jahre mit Curt Wad zusammengearbeitet, und das verführt einen. Ja, ich gebe zu, dass ich leider nicht so stark bin wie er, dass ich keine so starke Persönlichkeit bin.« Er schüttelte den Kopf und nahm noch einen Schluck. »Aber als ich dich da auf der Vorderseite der Illustrierten sah, beschloss ich, mein Engagement in all den alten Fällen noch einmal neu und kritisch zu überdenken. Und weißt du, was mir da klar wurde?«
Er wartete ihre Antwort nicht ab und bemerkte deshalb auch nicht, wie sie ihm ganz langsam die Augen zuwandte und den Kopf schüttelte.
»Mir wurde klar, dass ich selbst über Jahre hin missbraucht und fehlgeleitet worden war. Damals habe ich angefangen, viele Dinge aus tiefstem Herzen zu bereuen, auch wenn es mir anfangs nicht leichtgefallen ist, mir meine Irrtümer einzugestehen. Aber beim Durchsehen meiner alten Akten merkte ich immer deutlicher, wie sehr mich Curt Wad mit seinen Lügen, seinen Verheimlichungen und Zerrbildern genarrt hatte. Wie sehr er mich systematisch ausgenutzt hatte.«
Als er ihr erneut die Tasse hinhielt, war sie einen Moment im Zweifel, ob sie überhaupt daran gedacht hatte, Bilsenkrautextrakt dazuzugießen.
Sie schenkte noch einmal Tee nach und registrierte in dem Augenblick, wie er anfing, zu schwitzen und schwerer zu atmen.
Nur er selbst schien es nicht zu bemerken. Er hatte zu viel auf dem Herzen.
»Curt Wads Mission besteht darin, zu verhindern, dass sich bestimmte Menschen vermehren, von denen er meint, sie seien es nicht wert, die Welt mit ihm und anderen sogenannten rechtschaffenen Dänen zu teilen. Ich schäme mich, das auszusprechen, aber diese Verblendung hat dazu geführt, dass er persönlich weit mehr als fünfhundert Abtreibungen durchgeführt hat, gegen den Wunsch und Willen der Schwangeren, und ich glaube, er hat genauso viele Eingriffe vorgenommen, die zu lebenslanger Sterilität führten.« Er sah sie an, als hätte er selbst das Messer geführt.
»Oh Gott, es ist einfach entsetzlich. Aber was auch geschehen mag, ich muss das jetzt aussprechen.« Ein tiefer Seufzer zeugte davon, wie sehr ihm das, was er jahrelang zurückgehalten hatte, auf der Seele brannte. »In der Organisation Geheimer Kampf, die ich einige Jahre lang verwaltet habe, stand Curt Wad mit Dutzenden von Ärzten in Kontakt, die genauso dachten und handelten wie er. Man kann sich den Umfang des Ganzen kaum vorstellen.«
Nete konnte es leider nur zu gut.
Mit Tränen in den Augen und zusammengepressten Lippen versuchte Nørvig, sich zu fassen.
»Nete, ich habe mitgeholfen, Tausende ungeborener Kinder zu töten.« Er stöhnte auf, schnappte nach Luft und fuhr dann mit zitternder Stimme fort. »Ich habe mitgeholfen, das Leben so vieler unschuldiger Frauen zu zerstören. Ich habe Trauer und Leid verursacht, Nete, dazu habe ich mein Leben verwendet.« Seine Stimme bebte nun so sehr, dass er innehalten musste.
Er sah sie an, und es war überdeutlich, dass er auf Vergebung wartete. Hinter ihrer unbewegten Fassade war Nete dem Zusammenbrechen nahe. Sie wusste nicht mehr, was sie sagen oder tun sollte. War das, was sie diesem Mann antat, wirklich gerechtfertigt? War es das?
Für einen Moment hätte sie gern seine Hand genommen, ihm ihre Vergebung signalisiert und ihm dann ruhig hinüber in die Bewusstlosigkeit geholfen. Aber sie schaffte es nicht. Vielleicht, weil sie sich schämte. Es war, als hätte ihre Hand einen eigenen Willen.
»Vor ein paar Jahren wollte ich mit meinem Wissen an die Öffentlichkeit gehen. Das Ganze war zu viel für mich. Aber Curt Wad vereitelte meine Pläne und nahm mir alles, was ich besaß. Meine Anwaltspraxis, meine Ehre, meine Selbstachtung. Ich hatte damals einen
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