Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
für den jeweiligen Körper zu finden.
Nete hatte den Computer ihres Mannes nicht benutzt, seit sie nach Kopenhagen gezogen war. Warum auch? Es gab niemanden, dem sie schreiben wollte, nichts, worüber sie schreiben wollte. Es hatte seither keinerlei Notwendigkeit mehr bestanden, Rechnungen auszustellen oder geschäftliche Korrespondenz zu erledigen. Die Zeiten waren endgültig vorbei.
Aber an diesem Donnerstag im August 1987 schaltete sie den Computer ein. Als sie das Brummen hörte und sich auf dem Bildschirm langsam das Grün breitmachte, verspürte sie ein Kribbeln im ganzen Körper.
Wenn die Briefe erst geschrieben und abgeschickt waren, gab es kein Zurück mehr. Netes Lebensweg würde sich verengen und zwangsläufig in der Sackgasse enden. So sah sie es und so wollte sie es.
Sie entwarf mehrere Varianten des Briefs und entschied sich am Ende für diese, die sie dann je nach Empfänger persönlicher oder förmlicher gestalten wollte:
Liebe/r ...,
es ist viele Jahre her, seit wir uns zuletzt gesehen haben. In diesen Jahren, das kann ich voller Dankbarkeit sagen, hat es das Leben gut mit mir gemeint.
Ich habe die Zeit genutzt, um mein Schicksal zu reflektieren, und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass sich alles so gefügt hat, weil es sich gar nicht anders fügen konnte und weil ich, wie ich jetzt einsehe, selbst nicht ohne Schuld war.
Deshalb quälen mich die alten Geschehnisse, die harten Worte und Missverständnisse auch nicht länger. Es ist im Gegenteil fast so, dass es mir Ruhe und Frieden gibt, zurückzuschauen und zu wissen: Ich habe all das überstanden. Jetzt ist die Zeit der Versöhnung angebrochen.
Wie Du vielleicht aus den Medien weißt, war ich einige Jahre mit Andreas Rosen verheiratet und bin durch sein Erbe zu einer wohlhabenden Frau geworden.
Leider will es das Schicksal, dass ich an einer unheilbaren Krankheit leide, wie gerade nach längerer Behandlung im Krankenhaus festgestellt wurde. Und da ich naturgemäß keine Erben bekommen konnte, habe ich mich entschlossen, meinen Überfluss mit Menschen zu teilen, die meinen Lebensweg im Guten wie im Schlechten gekreuzt haben.
Deshalb möchte ich Dich einladen, mich am
Freitag, den 4. September 1987, um ... Uhr
in meiner Wohnung im Peblinge Dossering 32 in Kopenhagen zu besuchen.
Mein Anwalt wird anwesend sein und dafür Sorge tragen, dass Dir zehn Millionen Kronen überschrieben werden. Natürlich musst Du dieses Geschenk versteuern, aber all das erledigt der Anwalt, darum musst Du Dich nicht kümmern.
Ich bin sicher, dass wir anschließend über unser verrücktes, wildes Leben reden können. Die Zukunft hat mir leider nicht mehr viel zu bieten, aber dafür habe ich die Möglichkeit, Dir Deine zu versüßen, und der Gedanke daran stimmt mich freudig und gelassen.
Ich hoffe, Du bist gesund und bereit, mich zu treffen.
Ich bin mir darüber im Klaren, dass die Frist sehr kurz anberaumt ist, aber welche anderweitigen Pläne Du auch für den Tag haben magst - ich denke, Du wirst es nicht bereuen, diese kleine Reise zu unternehmen.
Ich bitte Dich, meine Einladung anzunehmen und pünktlich zum angegebenen Zeitpunkt zu erscheinen, da mein Anwalt und ich am selben Tag noch andere Termine haben.
Zur Bestreitung Deiner Reisekosten lege ich einen Verrechnungsscheck über zweitausend Kronen bei.
Ich freue mich, Dich zu sehen. Das wird mir und vielleicht ja auch Dir Ruhe geben.
Mit freundlichsten Grüßen
Nete Hermansen
Kopenhagen, Donnerstag, den 17. August 1987
Ein gelungener Brief, fand sie. Sie speicherte ihn unter sechs verschiedenen Dateinamen ab, personalisierte jede Version, versah alle mit ihrem Briefkopf, druckte sie aus und unterschrieb sie. Zierlich, aber doch mit selbstbewusstem Schwung. Mit einer Unterschrift, die keiner der sechs Adressaten je von ihrer Hand gesehen hatte.
Sechs Briefe. Curt Wad, Rita Nielsen, Gitte Charles, Tage Hermansen, Viggo Mogensen und Philip Nørvig. Einen Moment lang hatte sie erwogen, auch ihren beiden noch lebenden Brüdern zu schreiben, verwarf die Idee dann aber wieder. Die waren damals noch so jung gewesen, hatten sie kaum gekannt. Außerdem waren sie zu jener Zeit zur See gefahren. Nein, ihnen war nichts vorzuwerfen. Und Mads, ihr großer Bruder, lebte schon nicht mehr.
Deshalb lagen nur sechs Briefumschläge vor ihr. Eigentlich müssten es neun sein, aber dreimal war ihr der Tod zuvorgekommen, das wusste sie. Da hatte die Zeit die Kapitel bereits abgeschlossen.
Die drei, die der Tod schon
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