Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
Beobachtung. Die Familie hatte sich da schon längst aufgelöst.
Nach ein paar Monaten in einer Pflegestelle prostituierte sie sich erneut und kam daraufhin für eine Weile in die Keller'schen Anstalten in Brejning. Dort wurde eine leichte Form von Geistesschwäche diagnostiziert. Nach einer Reihe von Fluchtversuchen und Gewaltdelikten wurde sie in die Besserungsanstalt für Frauen auf Sprogø eingewiesen. Nach einem weiteren Aufenthalt bei einer Pflegefamilie und neuerlichen Straffälligkeiten verschwand sie vom Sommer 1963 bis in die Mitte der Siebzigerjahre aus dem Blickfeld. Anscheinend verdingte sie sich in der Zeit als Tänzerin in verschiedenen europäischen Großstädten.
Danach richtete sie einen Massagesalon in Aalborg ein, wurde wegen Kuppelei verurteilt und kam offenbar zur Besinnung. Sie schien ihre Lektion gelernt zu haben. Es gelang ihr tatsächlich, mit ihrem Massage- und Callgirl-Unternehmen ein Vermögen anzuhäufen, ohne in Konflikt mit dem Gesetz zu geraten. Sie zahlte Steuern und hinterließ dreieinhalb Millionen Kronen, die inzwischen wohl mindestens das Dreifache wert sein dürften.
Beim Lesen dachte sich Carl seinen Teil. Wenn Rita Nielsen geistesschwach war, dann kannte er auf jeden Fall andere, die das auch waren.
In diesem Moment platzierte er seinen Ellbogen in einer Pfütze auf dem Schreibtisch und musste feststellen, dass seine Nase seit geraumer Zeit still und heimlich lief.
»Verdammter Mist!«, rief er und legte den Kopf in den Nacken, während seine Finger nach etwas zum Schnäuzen tasteten.
Zwei Minuten später stand er auf dem Korridor, wo Rose und Assad Kopien aus der Nielsen-Akte an die kleinste der großen Anschlagtafeln hefteten.
Carl sah hinüber zur anderen Anschlagtafel, die sich zwischen Roses Büro- und Assads Besenkammertür erstreckte. Da hing ein Blatt Papier für jeden ungelösten Fall, der seit der Einrichtung des Sonderdezernats Q zu ihnen heruntergebracht worden war. Die Fälle waren chronologisch geordnet und, sofern sich eine mögliche Verbindung zwischen ihnen andeutete, mit farbigen Fäden verbunden. Das System war Assads Erfindung, und es war denkbar einfach: Blaue Fäden standen für auffällige Parallelen zwischen zwei oder mehreren Fällen und rote Fäden für eine tatsächliche Verbindung.
Derzeit hingen dort einige blaue Schnüre, aber keine roten, eine Tatsache, die Assad zweifellos zu ändern versuchte.
Carls Augen wanderten über die Fälle. Alles in allem waren es inzwischen mindestens hundert Blatt Papier geworden. Und etliches davon gehörte bestimmt überhaupt nicht hierher. Das war, wie im Dunkeln nach einer Nadel im Heuhaufen zu suchen und dann auch noch den Faden einzufädeln.
»Ich geh jetzt heim«, verkündete Carl. »Ich glaub, ich hab den gleichen Mist im Leib wie du, Assad. Habt ihr die Absicht, länger zu bleiben? Dann solltet ihr mal versuchen, an Tageszeitungen aus den Tagen von Ritas Verschwinden zu kommen. Ich würde vorschlagen, die Woche vom 4. bis zum 11. September 1987. Dann sehen wir, was zu der Zeit so alles los war. Ich kann mich jedenfalls nicht mehr erinnern.«
Rose stellte sich neben ihn und wippte mit den Hüften. »Glaubst du etwa, wir könnten uns blitzschnell zu etwas Vorarbeiten, das man damals mit mühseliger Ermittlungsarbeit nicht herausgefunden hat?«
Mühselig, hatte sie gesagt. Komisches Wort aus einem so jungen Mund.
»Natürlich nicht. Ich stelle mir nichts weiter vor als zwei Stunden zu Hause in der Koje vor der Martinsgans«, sagte er und ging.
9
August 1987
N etes Mutter hatte immer zu ihr gesagt, sie habe geschickte Hände. Sie bezweifelte nicht eine Sekunde, dass ihre Tochter eines Tages viel Anerkennung für das Können ihrer Hände einheimsen würde. Nein, abgesehen von einem klugen Kopf waren geschickte Hände das wichtigste Werkzeug, das Gott einem Menschen schenken konnte, und nach dem Ableben der Mutter hatte der Vater viel Gebrauch von Netes Händen gemacht.
Nete war es, die umgefallene Zaunpfähle aufrichtete und lädierte Fresströge abdichtete, die Dinge zusammennagelte und sie, wenn nötig, auseinanderbrach.
Und ebendiese geschickten Hände wurden auf Sprogø zu ihrem Fluch. Wenn das Gestrüpp auf die Felder wucherte, wurden sie blutig gerissen. Tagein, tagaus mussten sie tätig sein, ohne je etwas zurückzubekommen. Jedenfalls nichts Gutes.
Dann waren bessere Jahre gekommen, in denen die Hände Ruhe hatten. Und nun sollten sie wieder etwas zu tun bekommen.
Sorgfältig vermaß
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