Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
in Tranebjerg war etwas zu holen gewesen, denn die Klinik war in der Zwischenzeit geschlossen worden und das Personal in alle Winde verstreut. Gittes Mutter lebte schon lange nicht mehr und der Bruder war nach Kanada ausgewandert, wo er vor einigen Jahren gestorben war. Die einzige konkrete Verbindung zu ihrem Leben auf Samsø war der Mann, der ihr vor dreiundzwanzig Jahren im Maarup Kirkevej ein Zimmer vermietet hatte.
Roses Beschreibung des Vermieters sprach Bände. »Ein dickköpfiger, zänkischer Alter. Seit der Zeit, als Gitte Charles bei ihm wohnte, hat er die winzige Bude von einundzwanzig Quadratmetern noch fünfzehn- bis zwanzigmal vermietet. Er erinnerte sich zwar ausgezeichnet an sie, Schlaues beizutragen hatte er aber trotzdem nicht. So ein richtiger Bauerntölpel, mit Mist an den Stiefeln und rostigen Traktoren auf dem Hof. Er findet, schwarz verdientes Geld sei das einzig Wahre.«
Carl legte das Blatt zurück und nahm sich stattdessen die polizeilichen Ermittlungsergebnisse im Gitte-Charles-Fall vor. Das Material war ebenfalls ziemlich mager.
Nun wechselte oben auf dem Flachbildschirm mehrmals das Bild. Schnelle Schnitte zwischen zwei größeren Menschengruppen im Parlamentssaal und den Gesichtern zweier breit lächelnder alter Männer.
Der Journalist, der den Beitrag kommentierte, zeigte wenig Respekt vor dem, worüber er berichtete.
»Nun, da es der Partei Klare Grenzen nach mehreren Anläufen endlich geglückt ist, genügend Unterschriften zu sammeln, um sich für die nächste Folketing-Wahl aufstellen zu lassen, muss man sich fragen, ob damit der Tiefpunkt dänischer Politik erreicht ist. Seit den Tagen der Aufschwungpartei war keine Partei so umstritten, hat sich keine Partei mit so fragwürdigen Kernanliegen zur Wahl gestellt. Bei der Gründungsversammlung heute präsentierte der Parteigründer, der wegen seiner Radikalität oft gescholtene Frauenarzt Curt Wad, der Öffentlichkeit die Kandidaten seiner Partei. Anders als seinerzeit bei der Aufschwungpartei gehören dazu eine ganze Reihe prominenter Persönlichkeiten mit durchaus bemerkenswerten Karrieren. Das Durchschnittsalter dieser Kandidaten liegt bei zweiundvierzig Jahren und ist damit weit entfernt von der Behauptung mancher politischer Gegner, Klare Grenzen werde von Greisen repräsentiert. Parteigründer Wad ist allerdings schon achtundachtzig Jahre alt, und auch mehrere der Vorstandsmitglieder haben das Pensionsalter längst überschritten.«
An dieser Stelle wurde ein großer Mann mit weißen Koteletten gezeigt, der weitaus jünger wirkte als achtundachtzig Jahre. Curt Wad. Arzt, Parteigründer, stand unter dem Gesicht.
»Hast du meine Notiz und den Polizeibericht zu Gitte Charles' Verschwinden schon gelesen?« Rose stand in der Tür.
Carl drehte sich um. Seit er mit ihrer richtigen Schwester Yrsa telefoniert hatte, fiel es ihm nicht ganz leicht, sich hundertprozentig seriös zu ihrer Erscheinung zu verhalten. Diese schwarzen Stoffbahnen, das Make-up und die Schuhe, mit denen man binnen Sekunden eine Kobra aufspießen konnte - war das auch nur Fassade?
»Äh, ja. Ein bisschen, ich hab's überflogen.«
»Über das Protokoll der Polizei hinaus, das Lis uns gleich zu Anfang gegeben hat, war nicht viel zu holen. Nach Gitte Charles' Verschwinden fehlte es der Polizei an Anhaltspunkten für die Fahndung. Gitte Charles' Trinksucht kam ans Licht, und auch wenn erstaunlicherweise nie explizit gesagt wurde, dass sie Alkoholikerin war, wurde spekuliert, dass sie im Vollrausch irgendwo verschwunden sein könnte. Da sie weder Angehörige noch Kollegen hatte, geriet das alles aber schnell in Vergessenheit. Exit Gitte Charles.«
»Es wird erwähnt, sie hätte die Fähre nach Kalundborg bestiegen. Theoretisch könnte sie ja über Bord gegangen sein?«
Roses Gesichtsausdruck nahm nun einen ärgerlichen Zug an. »Nein, Carl. Sie wurde gesehen, als sie von Bord ging, das habe ich doch bereits gesagt. Ich merk schon, viel Zeit hast du der Lektüre des Berichts wirklich nicht geopfert!«
Das Letzte überhörte er einfach. Seine Spezialität waren abwehrende Fragen. »Was hat ihr Vermieter zu ihrem Verschwinden gesagt?«, fragte er. »Der muss sich schließlich gewundert haben, dass die Miete ausblieb.«
»Nein, die wurde doch direkt vom Sozialamt bezahlt. Weil sie das Geld sonst einfach nur versoffen hätte, heißt es. Also, der Vermieter, dieser Idiot, hatte keinen Grund, ihr Verschwinden bei der Behörde anzuzeigen. Es war ihm wohl auch
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