Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
das ist Nete«, sagte ihre Nachbarin. »Die hockt immer dort in der Ecke und starrt aufs Meer und zu den Möwen, die Muscheln fallen lassen. Aber wenn du glaubst, sie sei ein stilles Mädchen, dann irrst du dich gewaltig.«
Schließlich öffnete Gitte Netes Brief und fing an zu lesen. Und je weiter sie las, desto mehr zitterten ihre Hände. Als sie an die Stelle kam, wo Nete erwähnte, sie wolle Gitte zehn Millionen Kronen vermachen, schnappte sie nach Luft und musste den Brief weglegen. Minutenlang ging sie in ihrer kleinen Küche auf und ab und wagte nicht, weiterzulesen. Rückte stattdessen die Teedose zurecht, wischte den Tisch ab und trocknete sich sorgfältig die Hände an den Hüften ab. Erst dann warf sie wieder einen Blick auf den Brief. Zehn Millionen Kronen, stand dort. Und weiter unten im Text, dass ein Scheck beigelegt sei. Sie griff nach dem Umschlag und stellte fest, dass das stimmte. Den hatte sie glatt übersehen.
Sie ließ sich schwer auf den Stuhl sinken und blickte sich mit bebenden Lippen in dem ärmlichen Zimmer um.
»Der ist von Nete«, murmelte sie mehrmals vor sich hin, ehe sie endlich den Morgenrock auszog.
Der Scheck war über zweitausend Kronen ausgestellt, das war weit mehr, als eine Hin- und Rückfahrkarte für Fähre und Zug nach Kopenhagen kostete. Auf der Bank in Tranebjerg würde sie ihn nicht einlösen können, denn der schuldete sie weit mehr als zweitausend Kronen. Aber sie könnte den Bauern dazu bringen, ihn ihr für fünfzehnhundert Kronen abzukaufen. Und danach würde sie so schnell sie konnte zum Kaufmann in Maarup radeln.
Mit dieser Situation konnte sie nicht ohne eine handfeste kleine Hilfe fertig werden. Und die Auswahl an Flaschen dort im Lebensmittelladen war anständig.
19
September 1987
N ete sammelte die Broschüren ein, die sie auf dem Couchtisch ausgebreitet hatte, und legte sie auf die Fensterbank. Vielversprechende Prospekte über hübsche Dreizimmerwohnungen in Santa Ponsa, Andratx und Porto Cristo, über zwei Reihenhäuser, eins in Son Vida und eins in Pollenca, und über ein Penthouse in San Telmo. Die Auswahl war gut, die Preise angemessen. Die Träume standen schon Schlange, bald würden sie in Erfüllung gehen.
Immer im Winter wollte sie weg aus Dänemark, und Mallorca schien ihr die richtige Wahl zu sein. In dieser schönen Landschaft wollte sie die Früchte der Arbeit ihres Mannes ernten und in Würde alt werden.
Ja, übermorgen, wenn alles überstanden war, würde sie einen Flug nach Palma de Mallorca buchen und sich dann vor Ort auf die Suche nach der richtigen Wohnung machen. Heute in einer Woche war sie weg.
Sie nahm sich noch einmal die Liste vor, ging die Namen der Reihe nach durch und antizipierte im Geiste den Ablauf in allen Einzelheiten. Nichts durfte dem Zufall überlassen bleiben.
Dort stand:
Rita Nielsen 11.00-11.45
* Aufräumen: 11.45-12.30
Tage Hermansen 12.30-13.15
* Aufräumen: 13.15-13.45
Viggo Mogensen 13.45-14.30
* Aufräumen: 14.30-15.00
Philip Nørvig 15.00-15.45
* Aufräumen: 15.45-16.15
Curt Wad 16.15-17.00
* Aufräumen: 17.00-17.30
Gitte Charles 17.30-18.15
* Aufräumen: 18.15
Sie stellte sich die Ankunft eines jeden Gastes vor und nickte dazu. Ja, das war in Ordnung so.
Sobald einer oben in der Wohnung war, würde sie auf den Knopf des Türtelefons drücken und ihre gesamte Klingelanlage damit ausschalten. Wenn derjenige, der in der Wohnung war, keinen Widerstand mehr leistete, würde sie die Klingel wieder einschalten.
Kam einer der Nachfolgenden zu früh und klingelte, würde sie den Betreffenden bitten, noch einmal zu gehen und zur festgesetzten Zeit wiederzukommen. Kam jemand zu spät, würde sie ihn ans Ende der Reihe schieben und ihm vorschlagen, so lange zum Seepavillon zu gehen und dort auf ihre Rechnung zu essen. Sie sollten sich bitte schön nach ihr richten, die Situation und die Belohnung waren schließlich nicht zu verachten.
Und falls zwei der Gäste vor der Eingangstür aufeinandertrafen, hatte sie die Reihenfolge so ausgeklügelt, dass diejenigen sich möglichst nie zuvor begegnet waren. Zwar konnte es sein, dass sich Curt Wad und Gitte Charles aus dem Sozialfürsorge- oder Krankenhausmilieu kannten, aber die Gefahr, dass ein Mann wie Curt Wad nicht auf die Minute pünktlich erschien, war äußerst gering.
Gut, dass ich Gitte ans Ende gesetzt habe, dachte sie. Bei ihr wusste man nie, ob sie die Zeit einhielt. Darauf hatte Gitte noch nie Wert gelegt.
Doch, ja. Der Plan war gut und die Zeit
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