Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
geschrieben?«, fragte Assad. Carl wand sich innerlich. So schnell hätte die Frage nicht kommen sollen.
Der Journalist schüttelte den Kopf. Nichts, sollte das wohl bedeuten.
»Sie sind sich darüber im Klaren, dass wir das überprüfen, nicht wahr, Herr Petterson? Und dann will ich Ihnen gleich noch eins sagen: Mit Ihrer Körpersprache haben Sie signalisiert, dass Sie bedeutend mehr wissen, als Sie erzählen mögen. Was das ist, weiß ich nicht, das können ganz harmlose Sachen sein. Aber die sollten Sie gleich auf der Stelle abladen. Arbeiten Sie für Curt Wad?«
»Louis, alles in Ordnung?«, fragte sein Partner Mogens, der näher gekommen war.
»Ja, ja, alles okay. Die zwei hier sind nur auf dem völlig falschen Dampfer.« Dann wandte er sich wieder Carl zu und sagte ganz ruhig: »Nein, ich habe nichts mit dem Mann zu tun. Ich arbeite für eine Organisation, die Benefice heißt. Sie ist unabhängig und finanziert sich hauptsächlich aus Spendengeldern. Meine Aufgabe besteht darin, Informationen über die Fehler der Dänemarkpartei und der Regierungsparteien in den letzten zehn Jahren zu sammeln, und das reicht.«
»Ja, da haben Sie sicher mehr als genug zu tun. Vielen Dank auch, Louis Petterson, das war nett. Dann brauchen wir nicht weiter nachzubohren. Und für wen sammeln Sie diese Informationen, wenn ich fragen darf?«
»Für alle, die darum bitten, sie einsehen zu dürfen.« Er richtete sich auf. »Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Wenn Sie mehr über Curt Wad wissen wollen, können Sie einiges von mir nachlesen, meine Artikel scheinen Ihnen ja vorzuliegen. Ich beschäftige mich inzwischen mit anderen Themen. Wenn Sie also keine weiteren konkreten Fragen zu diesen Vermisstenfällen haben, möchte ich doch jetzt feststellen, dass ich heute meinen freien Tag habe.«
»Das war eine überraschende Entwicklung«, sagte Carl fünf Minuten später auf der Straße. »Dabei wollte ich mich doch bloß kurz und knapp über diesen Curt Wad briefen lassen. Was zum Teufel macht der Kerl?«
»Also, im Moment tätigt er gerade jede Menge Anrufe. Dreh dich nicht um. Er beobachtet uns durchs Fenster. Sollten wir nicht Lis bitten, für uns herauszufinden, wen er da anruft?«
22
September 1987
N ete wachte mit pochenden Kopfschmerzen auf. Ob die Experimente am Vortag mit den stinkenden Flüssigkeiten die Ursache waren oder das Wissen, dass sie am Ende des Tages, dieses entscheidenden Tages ihres Lebens, sechs Menschen umgebracht haben würde, sie wusste es nicht.
Hingegen wusste sie, dass alle Vorbereitungen für die Katz sein würden, wenn sie nicht sofort ihre Migränetabletten schluckte. Vielleicht würden zwei Tabletten reichen, aber sie nahm vorsichtshalber drei. Dann wartete sie eine gute Stunde, schaute zwischendurch immer wieder auf die Uhr und spürte, wie die Kapillaren im Gehirn nach und nach zur Ruhe kamen und ihre Netzhaut das einfallende Licht nicht mehr wie Stromstöße empfand.
Sie stellte die Teetassen auf der Mahagonianrichte in ihrem Wohnzimmer bereit, legte die silbernen Teelöffel in einer Reihe nebeneinander und platzierte die Karaffe mit dem Bilsenkrautextrakt so, dass sie, wenn es so weit war, unbemerkt die notwendige Menge in die Tassen gießen konnte.
Zum zehnten Mal ging sie den Ablauf der Schlacht durch, dann setzte sie sich hin und wartete, das Ticken der englischen Standuhr im Ohr.
Morgen Nachmittag würde das Flugzeug nach Mallorca abheben, die üppige Vegetation Valldemossas würde sich beruhigend auf ihr Gemüt legen und die Dämonen der Vergangenheit würden sich endlich verziehen.
Aber vorher musste sie die Grabkammer füllen.
Die Pflegefamilie, die man ihrem Vater nach ihrem Spontanabort vermittelt hatte, empfing Nete wie eine Ausgestoßene, und diese Haltung ihr gegenüber sollte sich auch nie ändern.
Die tägliche Arbeit war anstrengend. Die Kammer der Mädchen lag abseits und ganz für sich, der Kontakt zur Familie beschränkte sich auf die Mahlzeiten, die in tiefstem Schweigen eingenommen wurden. Und öffnete Nete doch einmal den Mund, um etwas zu sagen, wurde ihr sofort bedeutet, still zu sein. Dabei gab sie sich solche Mühe, ordentlich zu sprechen. Nicht einmal die Tochter und der Sohn, beide im gleichen Alter, sahen in ihre Richtung. Sie war eine Fremde, und die Familie behandelte sie, als hätte sie uneingeschränkte Verfügungsgewalt über sie. Kaum Zuwendung und nie ein liebes Wort. Dafür hagelte es unaufhörlich Befehle und
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