Carl Mørck, Sonderdezernat Q Bd.4 - Verachtung
Ermahnungen.
Nur zwanzig Kilometer lag Netes Elternhaus entfernt, also keine Stunde Fahrt mit dem Fahrrad. Aber Nete hatte kein Fahrrad, und so musste sie sich damit begnügen, jeden Tag darauf zu hoffen, dass ihr Vater sein Kommen ankündigen würde. Das tat er allerdings nie.
Als sie knapp anderthalb Jahre bei der Familie war, wurde sie eines Tages in die gute Stube der Herrschaft gerufen. Dort stand ein Polizist und unterhielt sich lächelnd mit ihrem Pflegevater, aber kaum erblickte er Nete, änderte sich sein Gesichtsausdruck.
»Nete Hermansen, es tut mir leid, dir mitteilen zu müssen, dass sich dein Vater am letzten Sonntag zu Hause aufgehängt hat. Die gute Familie hier wurde deshalb von Amts wegen zu deinem gesetzlichen Vormund bestellt, du wirst hier wohnen, bis du einundzwanzig und damit volljährig bist. Ich glaube, darüber kannst du sehr froh sein. Dein Vater hinterließ im Übrigen nur Schulden.«
Mehr Worte wurden nicht verloren. Kein Bedauern, nichts zur Beerdigung.
Sie nickten ihr kurz zu. Die Audienz war beendet. Netes Leben war zusammengebrochen.
Sie weinte draußen auf dem Feld, während die anderen zusammenstanden und flüsterten. Manchmal fühlte sie sich so einsam, dass es schmerzte. Manchmal sehnte sie sich so sehr nach einer Berührung, dass die Haut brannte.
Aber da ihr nie jemand auch nur über die Wange strich, lernte Nete, ohne Zärtlichkeit zu leben.
Als eines Tages Jahrmarkt in der Stadt war, fuhren die anderen Mädchen vom Hof am Wochenende mit dem Bus los, ohne ihr Bescheid zu sagen. Nete blieb nichts anderes übrig, als sich mit zwei Kronen in der Tasche an die Landstraße zu stellen und den Daumen rauszuhalten.
Der Pritschenwagen, der anhielt, hatte jede Menge Schrammen und die Sitze waren durchgesessen. Aber der Fahrer lächelte.
Der wusste also nicht, wer sie war.
Er sagte, er heiße Viggo Mogensen und komme aus Lundeborg. Hinten auf der Ladefläche hatte er geräucherten Fisch für einen Händler, der auf dem Jahrmarkt einen Stand hatte. Zwei Kisten voller Fisch, die nach Rauch und vor allem nach Meer dufteten.
Als die anderen Mädchen sie zwischen den Karussells und den Schießbuden mit einem Eis in der Hand und einem flotten jungen Mann an der Seite entdeckten, schimmerte in ihren Blicken etwas, das Nete noch nie gesehen hatte. Später deutete sie das als Ausdruck von Neid, aber in dem Moment erschrak sie nur. Und dazu hatte sie auch allen Grund.
Es war warm, wie damals in den Sommern mit Tage, und Viggo erzählte so lebendig vom Meer und dem ungebundenen Dasein, dass Nete fast meinte, das alles selbst zu erleben. Und zunehmend erfüllte sie ein Glücksgefühl, wodurch Viggo leichteres Spiel hatte.
So ließ sie zu, dass er ihr den Arm um die Schulter legte, als er sie nach Hause fuhr. So sah sie ihn voller Hoffnung an und errötete, als er in einem Wäldchen anhielt und sie an sich zog. Und so kam es ihr auch nicht gefährlich vor, als er das Kondom überstreifte und sagte, dass es auf diese Weise nur schön sei und kein bisschen riskant.
Doch das schöne Gefühl war ganz schnell verpufft, als er sich aus ihr herauszog und feststellte, dass das Kondom gerissen war. Sie fragte, ob sie nun schwanger werden könnte, und hoffte vielleicht, dass er sagen würde, das sei zwar nicht ausgeschlossen, aber er würde sie auf jeden Fall mit zu sich nach Hause nehmen.
Doch das sagte er nicht. Und so bekam er auch nicht mit, dass sie tatsächlich schwanger wurde. Die anderen Mädchen vom Hof hingegen, die kriegten das ganz schnell spitz.
Als sie sich auf dem Feld übergeben musste, tuschelten sie hinter vorgehaltener Hand und wollten sich schier ausschütten vor Lachen.
Eine halbe Stunde später stand sie vor ihrer wutentbrannten Pflegemutter, die ihr mit Höllenqualen und der Polizei drohte, falls sie nicht sofort abtrieb. Am selben Tag noch fuhr ein Taxi auf den Hof, und der Sohn wurde weggeschickt. Er sollte auf keinen Fall mit dem Schweinkram in Verbindung gebracht werden, mit dem Nete den Hof besudelt hatte. Und als sie beteuerte, es sei ein netter junger Mann aus Lundeborg gewesen, den sie auf dem Jahrmarkt kennengelernt habe, half ihr das nichts, denn die anderen Mädchen, die sie mit ihm zusammen gesehen hatten, beteuerten ihrerseits, dass er ein Filou sei, der den Frauen nur zum eigenen Vergnügen unter die Röcke krieche.
Das Ergebnis der Unterredung war ein Ultimatum. Entweder ging Nete noch am selben Tag zu ihrem alten Arzt und ließ sich den Mist wegmachen,
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