Carl Tohrbergs Weihnachten: Stories (German Edition)
Ermittlungsrichter, aber die Stelle gefiel ihm nicht, es erschien ihm alles dort zu unübersichtlich. Wenn er nachts aufwacht, denkt er oft, dass alles da draußen ein Chaos sei, öde und irr.
Mit 65 Jahren wird er pensioniert. Der Präsident des Amtsgerichts richtet nach Dienstschluss im kleinen Saal einen Empfang für ihn aus, es gibt Wurst- und Käsebrötchen aus der Kantine, Seybold spendiert Salzgebäck und Sekt. Die Feier dauert von 17:00 Uhr bis 19:30 Uhr. Der Präsident hält eine Rede: Seybold sei ein »leuchtendes Beispiel« für die jungen Richter, er habe einen »ausgezeichneten juristischen Verstand«, sein Dezernat habe er »vorbildlich geführt«. Bei Seybold sei nie etwas liegen geblieben, sagt der Präsident freundlich, er solle unbedingt ab und zu vorbeikommen, die Kollegen würden sich freuen. Seybold winkt gut gelaunt ab, er sei froh, dass er jetzt pensioniert sei. Die Kollegen beglückwünschen ihn.
Nach der Feier macht Seybold im Tiergarten einen langen Spaziergang. Zu Hause trinkt er ein Glas Rotwein, liest noch ein wenig in dem neuen Buch über Bismarck, zieht sich einen Pyjama an und geht ins Bett. Kurz vor dem Einschlafen denkt er, dass es eine schöne Feier gewesen sei.
Zwei Wochen nach seiner Pensionierung fliegt Seybold nach Venedig, den Flug hat er schon vor Monaten gebucht. Von dort aus will er mit dem Zug weiter über Siena und Florenz bis nach Rom fahren – zwei Monate Italien hat er geplant.
Seybold verträgt das Essen im Flugzeug nicht, er bekommt Sodbrennen. Neben ihm sitzt eine dicke Frau mit geblümtem Kleid, sie will mit ihm über Venedig sprechen. Seybold lehnt höflich ab und sieht aus dem Fenster. Die Alpen von oben beunruhigen ihn, der Kapitän sagt über Lautsprecher, draußen seien es minus 50 Grad.
Auf dem Vaporetto vom Flughafen in die Stadt wird ihm schlecht, er hat Angst, sich vor allen Leuten übergeben zu müssen. Schweißnass und zitternd, steigt er am Markusplatz aus und setzt sich erschöpft in eines der großen Cafés. Die Musiker spielen Rossini-Ouvertüren, Seybold ist es zu viel, und er verlangt die Rechnung. Der Kellner berechnet für das »Supplemento Musica« 12 Euro extra. Seybold protestiert schwach, er habe die Musik nicht bestellt, sagt er, nur das, was bestellt werde, müsse auch bezahlt werden, das sei ein Grundsatz, der sicher auch in Italien gelte. Der Kellner schreit ihn an und droht mit der Polizei, Seybold gibt sofort nach.
Er zieht seinen Rollkoffer über den Platz. Überall sind Tauben, an den Palästen hängen riesige Werbeplakate für Versicherungen und Jeans. Nachdem er zwei Stunden durch die Stadt geirrt ist, findet er sein Hotel, es liegt neben dem Fischmarkt. Ihm wird ein stickiges Zimmer zugewiesen, nur ein Fenster, Ausblick auf einen schmalen Kanal.
Am nächsten Tag regnet es, Seybold besichtigt die Stadt trotzdem. San Marco hält er für überladen, den Campanile für zu hoch, am Dogenpalast scheinen ihm die Säulen zu niedrig zu sein. Am schlimmsten findet er die illegalen Straßenverkäufer, mehrmals denkt er daran, die Polizei zu rufen. Das Wasser steht auf den Plätzen, Seybold geht mit nassen Füßen in die Frari-Kirche, sie kommt ihm vor wie eine vollgestellte Gerümpelhalle. In der Nähe des Hotels isst er zu Mittag, die Nudeln sind verkocht, das Besteck unsauber. Er will noch das Sterbezimmer Richard Wagners sehen, aber der Palast ist jetzt eine Spielbank. Der Türsteher zwingt Seybold, sich ein Leihjackett anzuziehen – es ist das erste Mal in seinem Leben, dass seine Kleidung beanstandet wird. Um sechs Uhr abends ist er wieder im Hotel. Nachts wacht er auf, weil aus der Toilette merkwürdige Geräusche kommen. Am nächsten Morgen wird er von den Schreien der Marktverkäufer geweckt, er ist fiebrig erkältet.
Nach drei Tagen schreibt er seiner Schwester eine Postkarte: »Venedig ist nicht schön, es ist nur typisch.« Seybold beschließt, die Reise abzubrechen. Er fährt mit dem Zug nach München, er will dort seine Schwester besuchen. Sein Schwager, ein Unternehmer mit mehreren Schuhläden in der Innenstadt, holt ihn vom Bahnhof ab und schlägt ihm immer wieder auf die Schulter. Seybold bucht für den nächsten Tag den Rückflug nach Berlin.
Drei Monate nach seiner Pensionierung geht Seybold wieder ins Gericht. Er besucht seine Nachfolgerin, eine junge Richterin. Sie sprechen fast eine Stunde miteinander, dann muss sie zu einer Verhandlung. Seybold fährt mit dem Aufzug in die Kantine im fünften Stock und
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