Carl Tohrbergs Weihnachten: Stories (German Edition)
fuhr jeden Morgen mit dem Aufzug ganz nach oben und ging die Treppe runter, die Papiertüten trug er in der Hand. Im zweiten Stock wohnte eine Japanerin. Sie hatte schwarze Haare und schwarze Augen, und sie war sehr dünn. Der Bäcker sah sie manchmal, wenn sie von der Musikhochschule kam. Sie hatte dann einen kleinen Koffer mit ihrer Violine, und ihre Lippen waren dunkelrot. Wenn der Bäcker vor seinem Laden saß, nickte sie ihm zu oder wünschte ihm einen schönen Tag, und immer lächelte sie dabei. Einmal in der Woche kam sie in den Laden und bezahlte die Brötchen, die er ihr morgens vor die Tür stellte. Dann sprachen sie zwei oder drei Sätze, wie es mit dem Musikstudium laufe oder über den Streik der S-Bahn oder über das Wetter. Weil er ihren Nachnamen nicht aussprechen konnte, sagte sie, er solle Sakura zu ihr sagen, ihr Vorname sei für die Deutschen einfacher. Der Bäcker verliebte sich in sie.
Er überlegte jeden Abend, wie er es ihr sagen sollte, und schließlich fiel ihm ein, was er tun konnte. Er war Konditormeister, er hatte Preise für seine Torten gewonnen. Am nächsten Morgen fing der Bäcker an. Er räumte seine Küche auf und legte alles bereit. Es würde eine fünfstöckige Tarte werden, sie würde nichts mit den normalen Tartes zu tun haben, die man überall kaufen konnte. Er begann mit den Säulen, die er zwischen die Böden stellen wollte. Er machte sie aus einer harten Masse aus Puderzucker, Eiweiß, Zitrone und Rosenwasser, innen aber bestanden sie aus fast flüssigem Fondant. An der Kuvertüre arbeitete er fast eine Woche, er probierte, verwarf und experimentierte mit Farben aus verschiedenen Likören, bis sie leicht und fast durchsichtig war. Der Bäcker fertigte die fünf Lagen nach Farben und Süße. Von unten nach oben: Sauerkirsch-, Johannisbeeren-, Kirsch-, Orangen-, Mandarinentartes. Jede einzelne Schicht bestand aus vier großen und einer kleineren Tarte, er ordnete sie versetzt an, sodass sie sich von oben wie eine Blume öffneten. Er arbeitete lange und hart, und als er fertig war, war er müde.
Er schlief in dieser Nacht schlecht und war unruhig, als er am Morgen die Tarte in eine Holzkiste mit seinem Bäckermesser und seinen besten Kuchengabeln packte. Als er an Sakuras Tür klingelte, war er etwas außer Atem. Er wusste nicht, was er sagen sollte, wenn sie aufmachen würde. Der Mann, der die Tür öffnete, trug nur eine Unterhose. Er hatte Haare auf der Brust und eine Goldkette, an der ein Panther hing. Der Mann stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab und fragte den Bäcker, was er hier wolle. Unter seinem Arm hindurch sah der Bäcker in die Wohnung, die nur ein Zimmer hatte, und er hörte, dass die Dusche lief. Der Bäcker starrte den Panther auf der Brust des Mannes an. Er sah die winzigen Jadeaugen und den Ring, an dem der Panther immer hängen würde, und plötzlich tat ihm der Panther leid. Im Gefängnis hatten sie gesagt, es würde sich nie etwas ändern, daran musste der Bäcker jetzt denken.
Der Bäcker trug die Holzkiste nach unten und setzte sich auf eine Steinbank im Innenhof. Er öffnete den Deckel. Die Tarte ist sehr schön, dachte er. Sie glänzte orange und rot und dunkelrot in der Wintersonne. Er betrachtete sie eine Weile, dann brach er mit den Fingern ein kleines Stück der obersten Lage ab. Es schmeckte wunderbar. Das ist die beste Tarte, die ich machen kann, sagte er halblaut zu sich selbst. Er aß noch ein Stück. Und dann noch ein Stück. Er saß zwei Stunden auf der Bank, und am Ende hatte er die ganze Tarte gegessen. Zum Schluss nahm er das Blech, leckte den Rest der Kuvertüre ab, steckte das Messer und die Kuchengabeln wieder ein und warf die Kiste in die Mülltonne.
Am Nachmittag traf der Bäcker den Kioskbesitzer vor seinem Geschäft. Der Bäcker trug nicht mehr die weiße Schürze, sondern eine Winterjacke mit rotem Kragen, den Laden hatte er geschlossen. Es war kalt auf den Holzstühlen. Der Bäcker brachte auf einem kleinen Tablett zwei Tassen. Er stellte sie auf den mittleren Stuhl. Das Tablett wackelte, der Kaffee schwappte über den Rand. Der Bäcker setzte sich, stützte sich mit den Händen auf seinen Oberschenkeln ab und atmete laut aus. Er lächelte.
»Das ist der letzte Kaffee«, sagte er. Dann zeigte er mit dem Daumen nach hinten zu seinem Geschäft, ohne sich umzudrehen. »Ich werde das alles verkaufen. Den Backshop, auch meine Möbel und auch das Auto.«
»Was wollen Sie machen?«, fragte der Kioskbesitzer.
»Ich
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