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Carl Tohrbergs Weihnachten: Stories (German Edition)

Carl Tohrbergs Weihnachten: Stories (German Edition)

Titel: Carl Tohrbergs Weihnachten: Stories (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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ruckartig, der Stuhl hinter ihm knallt auf den Dielenboden. Niemand spricht mehr, die Opernsängerin starrt ihn mit offenem Mund an. Tohrberg geht zu seiner Mutter. Sie zittert: »Was tut er da?« Er packt sie im Nacken und beugt sie über eine Weihnachtskugel. »Schau dich an«, brüllt er. Die alte Dame reißt ihre Augen auf, sie sieht in der versilberten Oberfläche ihr grotesk verzerrtes Gesicht, neben sich ihren Sohn. Alles andere ist einfach, er braucht kaum Kraft. Die Gabel dringt in den faltigen Hals, die Zacken perforieren ihre Halsschlagader. Tohrberg dreht den Griff, er will, dass es endgültig ist. Sie rutscht vom Stuhl, Blut quillt zwischen ihren Händen hervor, sie öffnet den Mund, aber sie kann nicht schreien. Ihre Perlenkette verhakt sich im Spitzentischtuch und reißt es mit nach unten. Ein Teller fällt auf ihr Gesicht. Jemand beugt sich über sie, presst eine Serviette auf ihren Hals, die Gäste schreien durcheinander. Sie will etwas sagen, aber sie spuckt Blut. Vier Minuten später ist sie tot.
    Tohrberg geht ins Freie, niemand hält ihn auf. Es hat wieder angefangen zu schneien. Er fühlt sich leicht, er würde jetzt gern singen. »Frère Jacques« wäre schön, denkt er. Er beginnt zu summen. Eine Viertelstunde später klingeln die Kriminalbeamten. Ein Polizist nimmt ihm vorsichtig die Gabel aus der Hand, die er noch immer umklammert hält. Tohrberg lächelt. »Anamorphose«, sagt er. Der Beamte schreibt es auf.
    Manchmal besuche ich Tohrberg in der Landesnervenklinik. Er ist dort seit zwei Jahren. Die Familie hatte alles aufbieten müssen, damit die Sache nicht in die Presse kam. Es gab keinen Prozess, zwei Gerichtspsychiater erklärten ihn im Vorfeld für schuldunfähig, sie sagten, er leide an einer paranoiden Schizophrenie. Die Staatsanwaltschaft verzichtete auf eine Anklage und ließ ihn einweisen. Seine Frau reichte sofort die Scheidung ein, Sebastian trägt jetzt ihren Mädchennamen.
    Wir sitzen in einem hellen Raum, Weichholzmöbel mit runden Kanten, ein Gemeinschaftsfernseher, ein paar Bücher, die niemand liest. Durch die Panzerglasscheiben sieht man die Berge, es gibt keine Gitter. Jeden Tag bekommt er Tabletten, vielleicht sind es zu viele. Seine Haare sind jetzt länger, er trägt einen Bart und ein offenes blaues Hemd. Ich habe seine Zigaretten mitgebracht. Er spricht immer noch nicht viel, und wenn, dann fragt er nach seinem Sohn. Wir rauchen, obwohl es hier verboten ist. Als wir uns verabschieden, hält er meine Hand fest. Ich solle nichts mehr für ihn tun, er wolle nicht entlassen werden, sagt er. Er versucht zu lächeln, sein schiefer Mund. Für einen kurzen Moment sieht er aus wie der Junge, den ich kannte. Zum Abschied gibt er mir ein flaches Paket, sorgfältig in braunes Packpapier eingewickelt. Er habe das Bild hier gemalt, sagt er. Dann geht er den Gang hinunter, sein rechtes Bein zieht er nach.
    Zwei Tage später bin ich wieder in Berlin. Ich stelle das Bild auf die Fensterbank hinter meinem Schreibtisch. Es wirkt leicht, freundliche, helle Pastellfarben, durchsichtig, schwebend. Aber unter dem fast transparenten Gewebe gibt es noch etwas anderes, einen kaum wahrnehmbaren dunkleren Klang, beunruhigend und fremd. Ich hole die Strafakte aus dem Schrank. Im Festnahmebericht steht, Tohrberg habe kurz nach der Tat zu einem Polizisten »Anamorphose« gesagt. So wird eine Maltechnik der Renaissance genannt, viele Künstler waren damals auch Mathematiker. Die Meister arbeiteten manchmal Botschaften in ihre Gemälde ein, die nur mit Spiegeln, Zylindern oder aus ganz ungewöhnlichen Winkeln gelesen werden konnten. Ich nehme die Lampe vom Schreibtisch und drehe den Schirm so, dass sich im Chrom die Leinwand spiegelt. Nach einiger Zeit gibt das Bild ein verborgenes Wort frei – fünf Buchstaben, ausgefranst, grau verwaschen, in Spiegelschrift wild über die ganze Fläche verteilt: »GLUMP«.

Ferdinand von Schirach, geboren 1964 in München, arbeitet seit 1994 als Strafverteidiger in Berlin. Seine Erzählungsbände »Verbrechen« und »Schuld« wurden, genau wie sein erster Roman »Der Fall Collini«, zu internationalen Bestsellern. In mehr als dreißig Ländern erschienen Übersetzungen. Die Erzählungen werden zurzeit verfilmt.

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