Carl Tohrbergs Weihnachten: Stories (German Edition)
keine Kinder bekommen konnte, hatten sie einen Jungen aus Tansania adoptiert. Er zeigte mir Fotos von seinem Reihenhaus. Auf einem Bild steht auf dem sehr kurzen, sehr grünen Rasen eine Frau. Sie trägt einen Bikini und Gartenhandschuhe, in der Hand hat sie einen Schlauch. »So ein Rasen braucht viel Pflege, sonst sieht es schnell aus wie hier«, sagte er. Ob er noch male, fragte ich ihn. Er antwortete nicht. Wir saßen auf der Terrasse, vor uns Klatschmohn, Kornblumen, Rosskastanien, Anemonen und hohes Hafergras. »Ich habe alles versucht«, sagte er. Dann steckte er die Fotos wieder ein.
Sechs Jahre später verlässt Carl Tohrberg am 23. Dezember Punkt zwölf Uhr sein Büro. Er arbeitet noch immer in der Norddeutschen Lebens- und Sachversicherung, er ist Abteilungsleiter, seine Arbeit macht er ordentlich. Er hat dünnes Haar, einen Bauch, er trägt eine schwarze Hornbrille. Jeden Tag zieht er einen Anzug an (grau, blau oder schwarz), immer ein weißes Hemd, immer eine Krawatte (nie zu bunt). Seit vier Monaten hat er ein Verhältnis mit einer Mitarbeiterin aus der Buchhaltung. Sie fahren getrennt zweimal pro Woche in die Stadt und treffen sich für 90 Minuten in einem Novotel in der Nähe des Bahnhofs. Das Zimmer kostet 59 Euro. Mit seiner Frau schläft er nicht mehr, seine Ehe würde er trotzdem nie aufgeben. Tohrberg will dieses Leben. Er will wie die Männer sein, die er in den Wartehallen der Flughäfen und in Tagungshotels trifft. Er redet gern über Steuern, Finanzkrisen und wann er die Senator Card von Lufthansa bekommen wird. Seine Welt besteht aus Versicherungen, Schadensfällen, Kennzahlen, Tabellen. Das Eckbüro mit zwei Fenstern ist ihm etwas zu viel, auf seinem Schreibtisch liegen ein iPad und eine Aktentasche von Montblanc. Tohrberg liebt Zahlenreihen, am Wochenende entwickelt er Formeln für versicherungsmathematische Probleme. Mathematik sei die einzige Vollendung, sagt er. Als an seiner Bürotür das Schild »Carl Graf von Tohrberg« angebracht wird, lässt er es entfernen und durch »Karl Tohrberg« ersetzen. Er hält sein Leben für belanglos. Und er ist froh darüber.
Tohrberg schließt sein Büro ab. Die Lämpchen auf dem winzigen Weihnachtsbaum im Flur blinken rot und grün, Nadeln liegen auf dem hellen Teppich. Er sieht noch kurz ins Sekretariat. Genau in der Mitte des Doppeltisches steht ein Adventskranz, alle vier Kerzen brennen. Sie sind dick und rot, und sie riechen nach der flüssigen Seife in den Flughafentoiletten. Die beiden Sekretärinnen trinken Punsch aus weißen Plastikbechern, sie prosten ihm zu: »Frohe Weihnachten.«
»Ja«, sagt Tohrberg. »Ihnen auch. Und denken Sie bitte an die Kerzen, wenn Sie gehen.« Eine der Sekretärinnen macht ein Gesicht, als hätte er etwas Unanständiges gesagt. Auf dem Weg zum Parkhaus trifft er zwei angetrunkene Mitarbeiter. Tohrberg nickt freundlich. Er bemüht sich, nicht arrogant zu wirken. Als er im Wagen sitzt, fällt ihm ein, dass er vergessen hat, sich für die Dominosteine zu bedanken, die seine Sekretärin ihm morgens auf den Tisch gestellt hat. Auf dem Boden des Beifahrersitzes liegt ein leeres Bonbonpapier. Es ärgert ihn.
Den Nachmittag verbringt er damit, die letzten Geschenke zu kaufen. Er hat schon im Oktober damit angefangen: 18 Geschenke, für jedes braucht er mit Anfahrt, Auswählen, Bezahlen und Einpackenlassen circa 40 Minuten, macht zusammen 720 Minuten. Zwölf Stunden Vorweihnachtszeit, denkt Tohrberg. Im Eingang des Kaufhauses liegt grauschwarzer Schneematsch auf den Matten von City Clean. Ihm wird warm, er zieht den Mantel aus, legt ihn über den Arm. Der Schlüsselbund fällt aus der Tasche, Tohrberg bückt sich. Eine Frau mit vielen Einkaufstüten geht an ihm vorbei, eine scharfe Kante trifft ihn an der Stirn und reißt die Haut über der linken Augenbraue auf. Als er wieder hochkommt, blutet er ein wenig. Ein kleines Mädchen zeigt auf ihn, die Mutter zieht es weg.
Am Abend ruft seine Mutter an. »Wann kommt er?«, fragt sie. Er nennt die Uhrzeit, seit Jahren fliege nur eine Maschine täglich nach Salzburg. Sie werde ihn abholen, sagt sie. Dann erzählt sie von einem neuen Friseur in der Stadt, seine Frau müsse dort unbedingt hin, sie habe schon einen Termin gemacht, er habe auch Caroline Grimaldi frisiert, so gut sehe die jetzt aus, obwohl sie schon »ziemlich grauslich« sei, einen Mann bekomme sie sicher nicht mehr … Tohrberg legt auf.
In der Nacht schläft er schlecht. Er wacht dauernd auf. Er geht in
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