Carl Tohrbergs Weihnachten: Stories (German Edition)
er sei noch einmal länger verreist, sie solle sich keine Sorgen machen. Danach hört sie nichts mehr von ihm. Nach sechs Monaten erstattet sie eine Vermisstenanzeige. Die Polizei stellt fest, dass Seybold seine Wohnung aufgelöst und sich ordnungsgemäß abgemeldet hat. Seine Pension wird weiter auf sein Konto bei der Berliner Sparkasse überwiesen.
Vier Jahre später ruft ein Mitarbeiter des deutschen Konsulats in Phuket die Schwester an. Der Beamte sagt, er müsse ihr eine »traurige Mitteilung« machen, Seybold sei gestern verstorben. Die Schwester fliegt nach Thailand, um seine Leiche überführen zu lassen. Im Konsulat besteht sie darauf, alles zu erfahren. Der Beamte ist unsicher und fragt seinen Vorgesetzten. Schließlich wird der Schwester die Akte der Polizei vorgelesen. Seybold ist in einem Bordell an einem Herzinfarkt gestorben, er hatte große Mengen Alkohol und Barbiturate im Blut. Die beiden Transvestiten, mit denen er auf dem Zimmer war, haben ausgesagt, sie würden ihn schon lange kennen, er sei ein guter Kunde gewesen, den »wilden Manfred« hätten alle ihn genannt. Der Beamte händigt der Schwester die Sachen des Bruders aus: ein lila Hawaiihemd, eine orangene Geldbörse mit einer Delfinapplikation, zwei Goldketten und eine Swatchuhr mit Strasssteinchen. Der Konsulatsbeamte verschweigt den Vermerk der Polizei, wonach Seybold in den vergangenen Jahren fünfmal festgenommen wurde: Einmal wurde er in einer Diskothek aufgegriffen, weil er jedem die frische Tätowierung auf seinem Penis zeigen wollte, die anderen viermal hatte er – völlig betrunken – Touristinnen angepöbelt. Seybolds wenige Habe liegt in einem billigen Hotelappartement im Vergnügungsviertel, er bewohnte es fast vier Jahre lang. Die Schwester lässt alles entsorgen.
Seybold wird im Familiengrab im Allgäu beigesetzt. Die Schwester, ihr Mann und Verwandte aus dem Dorf sind gekommen. Während der Beerdigung schneit es. Als der Pfarrer sagt, Manfred Seybold habe ein erfülltes Leben gehabt, beginnt die Schwester zu weinen. Dann gehen alle ins Gasthaus.
Carl Tohrbergs Weihnachten
C arl sprach nie viel. Als Kleinkind hatte ihn seine Mutter aus Versehen von einer Kommode fallen lassen, seitdem zog er das rechte Bein nach. Als ich in den Sommerferien zum ersten Mal bei ihm zu Hause war, waren wir beide noch sehr jung. Seine Familie bewohnte ein hübsches Haus auf einem der Berge über Salzburg. Es gab Dielenböden, eine riesige Küche und eine Mischung aus Bauernschränken und Le-Corbusier-Möbeln. Die Fenster waren im 19. Jahrhundert behutsam vergrößert worden, das Haus war hell und freundlich. Von der riesigen Terrasse aus konnte man hinunter auf die Stadt sehen. Als Kinder durften wir dort nur bis zu einem gelben Strich auf dem Steinboden gehen, den die Haushälterin einen Meter vor der Balustrade gezogen hatte. Die Terrasse war hart am Berg gebaut, unter ihr fiel der Felsen fast hundert Meter steil ab.
Die Tohrbergs besaßen dieses Haus seit etwa 200 Jahren. Ursprünglich stammten sie aus dem Rheinland, im 10. Jahrhundert wurde der erste Vorfahre erwähnt, seit Anfang des 14. Jahrhunderts ist die Stammlinie ununterbrochen dokumentiert. Die Familie war nie bedeutend gewesen, ein paar Generäle, einige hohe Geistliche, ein kaiserlicher Kämmerer. In der Französischen Revolution verloren die Tohrbergs ihren gesamten rheinischen Besitz. Von dem, was übrig blieb, wurde das Salzburger Haus gebaut. In der Eingangshalle war auf die Decke der Stammbaum der Familie gemalt. Carls Großvater, der damals schon weit über siebzig war und jeden Tag einen grünen, dreiteiligen Lodenanzug trug, zeigte uns gern, wie die Tohrbergs lückenlos bis zum Göttervater Zeus zurückverfolgt werden können. In den Gängen hingen Bilder der Vorfahren, die meisten mit vorgewölbter Stirn und tief liegenden Augen. Das Auffälligste aber waren die Münder der Tohrbergs: Fast immer saßen sie merkwürdig schief in den nachgedunkelten Gesichtern, und beinahe alle hatten dünne, blassrote Lippen.
Carls Vater besaß ein kleines Juweliergeschäft in der Sigmund-Haffner-Gasse unten in der Stadt. Er verkaufte dort hauptsächlich Manschettenknöpfe und Trauringe, aber er interessierte sich weder für seine Kunden noch für die Geschäftsbücher. Tatsächlich führte den Laden ein altes Ehepaar, das schon immer dort angestellt war. Carls Mutter, eine geborene Prinzessin Lychen-Helmstatt, war die eigentliche Hauptperson der Familie. Sie sprach unglaublich
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