Carlotta, Band 4: Carlotta - Internat und Prinzenball (German Edition)

kennenzulernen. Wie denn auch?
    „Ich bin nur die große Stiefschwester, die alle paar Wochen mal zu Besuch kommt“, murmelt sie leise.
    Irgendwie hat sie das Gefühl, gar nicht richtig zur Familie zu gehören. Wenn sie mal zu Besuch ist, kommt sie sich fast wie ein Eindringling vor. Mit ihrem Vater ist das ganz anders. Sie beide sind ein eingespieltes Team, verstehen sich blind und haben zusammen endlos Spaß. Aber als freiberuflicher Dokumentarfilmer ist er immer viel unterwegs. Seine Weltreise ist zwar vorbei, doch für sein neues Projekt – er soll Kinospots für eine große Umweltschutzorganisation drehen – ist er schon wieder auf Achse. Diesmal in Amsterdam, dem Hauptsitz der Organisation, von wo aus er die Dreharbeiten organisiert.
    Carlotta beneidet ihn ein bisschen. Sein Leben ist bunt und aufregend. Und doch wünscht sie sich manchmal, er wäre etwas sesshafter. Es würde vieles einfacher machen. Das nächste Heimfahrtwochenende zum Beispiel. Stattdessen steht plötzlich Kleiderkauf auf ihrem Programm. Bestimmt hat ihre Mutter schon eine der piekfeinen, teuren Boutiquen ins Auge gefasst, in denen sie Stammkundin ist. Auf die Zwillinge darf Carlotta bei der Gelegenheit garantiert auch wieder aufpassen.
    „Ächz, stöhn …“, macht sie.
    „Ist was?“ Manu hat sich beruhigt und es sich auf ihrem Bett gemütlich gemacht, wo sie ihr Lieblingsspiel auf dem Laptop spielt. Es geht um ein virtuelles Pferd, das sie füttert und pflegt und mit dem sie an Turnieren teilnimmt. Manchmal spielt sie es so lange, bis der Akku leer ist.
    „Nö, nix.“ Carlotta schüttelt den Kopf und wirft sich ein paar Gummibärchen in den Mund, bevor sie Katies Mail öffnet.
    Hello, my one and only Carlotti-Karotti!
    Was macht die Liebe? Gibt’s was Neues im Verehrer-Casting? Hast Du Dein Herzblatt schon gewählt?
    Ich bin gespannt, wer es ins Finale schafft!! B, N oder J …
    Halt mich auf dem Laufenden!
    Deine Katie – wie immer mit supervielen Extra-Knuddel-Grüßen von hier nach da.
    PS: Bei mir heißt die Frage gerade T wie Tino oder D wie Dennis. Beide sind supersüß. Mehr dazu, wenn Du in zwei Wochen kommst. Du kommst doch?
    Kichernd schiebt Carlotta sich noch eine Handvoll Gummibärchen zwischen die Zähne und kaut genüsslich, bevor sie Katies Mail in den Katie-Ordner verschiebt. Das ist mal wieder typisch ihre beste Freundin! Immer witzig und chaotisch. Und dann diese Anspielung! B, N oder J …
    Woher soll ich das wissen?, denkt Carlotta. Dazu müsste ich erst mal hundertpro sicher sein, dass Brendan, Niko und Jonas wirklich in mich verknallt sind, was Katie, Manu und Sofie mir ständig weismachen wollen. Vielleicht bin ich ja nur ein ganz normales Mädchen für die? Eine Freundin, die man kennt und mit der man Spaß haben kann. Wer sagt was von Liebe? Niemand!
    Carlotta lächelt. Wenn sie sich tatsächlich spontan für einen der drei Jungs entscheiden müsste, hätte sie ein echtes Problem. Jeder von ihnen hat was. Aber sie muss sich ja nicht entscheiden. Zum Glück.
    Weil sie ihre Neugier nicht länger bremsen kann, beschließt sie, später auf Katies Mail zu antworten. Jetzt ist Niko dran! Ihr Finger schwebt über der Tastatur. Soll sie wirklich?
    Klar, drängelt eine innere Stimme. Mach schon! Wetten, dass es sowieso nur irgendwas komplett Nebensächliches ist?
    Carlotta bringt die Stimme zum Schweigen und öffnet die Mail. Ein Foto springt ihr entgegen. Bieneburg von oben, das erkennt sie an den charakteristischen Dächern der Kleinstadt. Das Bild muss am späten Abend oder ganz frühmorgens aufgenommen worden sein, und zwar vom Rathausturm, dem höchsten Punkt der Stadt. Im Hintergrund erhebt sich eine kreisrunde Sonne über einem dunstigen Wald. Sie sieht wie eine perfekte Orange aus und bringt das Bild zum Leuchten.
    „Wow!“, entfährt es Carlotta. Sie ist von dem Foto so fasziniert, dass ihr nicht gleich auffällt, dass etwas daruntersteht. Als sie es bemerkt, lächelt sie.
    Wenn Du willst, zeig ich es Dir.
    Du musst Dich nur trauen.
    N.
    Zwei kurze Sätze und ein einzelner Buchstabe. Ach herrje …
    Rund um Carlottas Bauchnabel breitet sich ein warmes Kribbeln aus. Sie soll sich trauen bei Sonnenauf- oder Sonnenuntergang mit Nikolas von Falkenstein heimlich auf den Bieneburger Rathausturm zu steigen? Niemals!
    Als er das Foto aufgenommen hat, muss er sich aus dem Schloss geschlichen haben, so viel steht fest. Und zwar außerhalb der offiziellen Ausgangszeiten. Aber wie ist er auf den Turm gekommen?