Carlotta, Band 4: Carlotta - Internat und Prinzenball (German Edition)
wie heimlich auf den Bieneburger Rathausturm zu klettern, um dort zu fotografieren.
Sie kichert leise.
Als hätte Niko ihre Gedanken gelesen, zeigt er auf die Stadt, die hinter einem Waldstück auftaucht. Über den Dächern ragen zwei hohe Türme empor: ein Kirchturm, an dessen Spitze ein vergoldeter Wetterhahn in der Sonne aufblitzt, und der alte Rathausturm mit seinem markanten Balkon und der großen Uhr.
„Hast du dir inzwischen überlegt, ob du mit mir mal da raufwillst?“
„Nein, noch nicht“, antwortet Carlotta ehrlich. Dass sie am liebsten auf der Stelle mit ihm auf diesen hässlichen grauen Klotz steigen und nie wieder herunterkommen würde, sagt sie nicht. Das behält sie lieber für sich. Stattdessen wechselt sie das Thema.
„Fährst du übers Wochenende zu deinen Eltern?“
„Nee, ich besuche einen Kumpel in Berlin. Die Freundin von meinem Bruder wollte mich eigentlich abholen, aber der alte VW-Bus streikt mal wieder.“
Carlotta horcht auf. Sie erinnert sich daran, dass Niko im letzten Schuljahr von einer attraktiven jungen Frau mit einem klapprigen Hippiebus abgeholt worden ist. Die vertraute Umarmung und vor allem der Begrüßungskuss, dessen unfreiwillige Zeugin sie damals gewesen ist, haben sie ziemlich aus der Fassung gebracht. Aber wenn es die Freundin seines Bruders war? Carlotta grinst. Dann gehört die Hübsche so gut wie zur Familie. Und das bedeutet Entwarnung!
„In Berlin ist jedes Wochenende Party“, spricht Niko weiter. „Wenn du willst, komm doch nächstes Mal mit.“
„Nach Berlin?“ Carlotta reißt die Augen auf. Mit einem wildfremden Jungen, der aussieht, als würde er am liebsten Tag und Nacht Reggae hören und sich gerne mal einen Joint drehen?, fügt sie in Gedanken hinzu. Sie schüttelt den Kopf.
„Vergiss es. Das würden meine Eltern nie erlauben!“
„Wieso nicht? Du bist doch kein Baby mehr“, entgegnet Nico. Es klingt freundlich und sachlich, kein bisschen abwertend. Einfach wie eine Feststellung.
„Ich bin dreizehn“, seufzt Carlotta. „Ich werde zwar bald vierzehn, aber für meine Eltern bin ich trotzdem noch ein Baby. Besonders für meine Mutter.“
„Schade“, meint Niko. „Dann müssen wir wohl warten.“
Warten? Worauf? Womit? Was meint er damit? Carlotta schiebt die Stirn in Falten, aber sie traut sich nicht nachzufragen. Jungs sind wirklich rätselhaft!
Der Bus hat inzwischen Bieneburg erreicht. Er kurvt durch die engen Straßen der Altstadt, biegt in den ZOB ein, beschreibt einen Bogen und hält schließlich genau vor dem Eingangsportal des Bahnhofs, wo er mit zischenden Bremsen hält. Der Fahrer steigt aus und öffnet die seitliche Gepäckklappe.
„Wann fährt dein Zug?“, fragt Niko.
Carlotta klettert hinter ihm aus dem Bus.
„In zwanzig Minuten. Und deiner?“
„In zwei Minuten.“ Niko rafft seine Sachen aus dem Gepäckfach und grinst. „Sorry, ich muss mich echt beeilen.“
Er schiebt die Kamera in eine Jackentasche, schultert seinen Seesack, ergreift die Gitarre und den Verstärker, beugt sich vor und gibt Carlotta einen Kuss. Mitten auf den Mund. Am helllichten Tag. Unter wildfremden Menschen, die sich achtlos an ihnen vorbeischieben, um ihre Züge zu erreichen.
Carlotta ist viel zu verblüfft, um etwas sagen zu können.
„Ciao, Kleine“, sagt Niko lächelnd. „Pass auf dich auf!“
Ohne ein weiteres Wort stapft er davon und dreht sich nicht mehr um.
Carlotta starrt ihm sprachlos hinterher.
„Gehören die dir?“ Der Fahrer zeigt auf die letzten drei Gepäckstücke, die verloren im Innern des Faches liegen.
Carlotta nickt zerstreut.
Der Busfahrer reicht ihr die Sachen. Sie bedankt sich, bevor sie sich mit dem Rucksack und den Taschen behängt und mit letzter Kraft in den Bahnhof stolpert.
„Steffen hatte eine Wurzelbehandlung. Es geht ihm gar nicht gut.“ Die schmalen goldenen Armreifen am Handgelenk von Carlottas Mutter klimpern leise, als sie den Blinker setzt und in eine Wohnstraße einbiegt, an deren Ende sie den Wagen vor einem schneeweißen Einfamilienhaus parkt.
Carlotta schaut hinaus. Der Garten ist gepflegt, die Bäume sind sorgfältig gestutzt. Nirgendwo eine Spur menschlichen Lebens. Kein vergessenes Spielzeug, kein Krümel auf dem Plattenweg, kein Grashalm, der es wagt, aus der Reihe zu tanzen.
Es sieht aus wie aus einem Katalog für schönes Wohnen, denkt sie und öffnet die Autotür.
An die Bahnfahrt kann sie sich gar nicht mehr richtig erinnern. Kaum war sie eingestiegen, musste sie
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