Carlotta steigt ein
Stelle neben den
Registrierkassen in gewissen Kneipen. Nach der Bostoner Presse zu urteilen,
gehören jedoch die meisten der heißen IRA-Storys — Bombenanschläge,
Entführungen und Schießereien — einer fernen Geschichte an. Der letzte
aufsehenerregende Fall vor Ort, der mir in den Sinn kam, war die Valhalla- Affäre.
Die Valhalla war ein
Waffenschmugglerboot, besser gesagt, ein «angebliches» Waffenschmugglerboot,
und dampfte angeblich eines Septembermorgens 1985 mit einer angeblich höchst
explosiven Fracht (Kanonen, Bomben usw.) aus dem Gloucester-Hafen zur
angeblichen Irisch-Republikanischen Armee. Eine Bundesanklagejury hatte jeden,
der auch nur das mindeste mit der Valhalla zu tun hatte, um und um
gekrempelt, aber bis jetzt, nach einem vollen Jahr, waren noch keine Anklagen
ergangen, was in mir Zweifel über die Herkunft der Geschworenen weckte. In der
Zwischenzeit war dem Boston Globe zufolge ein Typ, angeblich ein
Informant, unter «höchst mysteriösen, die Möglichkeit einer Flucht
ausschließenden Umständen» verschwunden. Daraufhin hatte sich, wie könnte es
anders sein, das Gerücht verbreitet, er sei von der Bostoner IRA hochgenommen
worden.
Angesichts der Hartnäckigkeit
dieses Gerüchts und für den Fall, daß ich Margarets strumpfmaskierten Banditen
in die Arme lief, stand ich nun da und starrte auf eine S&W, Kaliber 38,
mit einer Vier-Zoll-Trommel nach dem normalen Polizeistandard, und glauben Sie
mir, Revolver nach Polizeistandard beschwören bei mir nur schlechte
Erinnerungen herauf.
Von meinem Blickwinkel aus
betrachtet ist das ganze verfluchte irische Gemetzel völlig unsinnig.
Vielleicht hat es früher einmal seinen Sinn gehabt, aber jetzt scheint alles
mehr oder weniger durch die Macht der Gewohnheit weiterzulaufen und sich
irgendwie in eine Art moderne Hydra zu verwandeln. Man schlage einen Kopf ab —
einen britischen Soldaten, einen Republikaner, einen protestantischen UDR-Mann
—, und zehn neue schießen aus der blutenden Wunde hoch. Im tiefsten
Massachusetts gewinnt man leicht den Eindruck, als sei das Ganze eher Legende
denn Wirklichkeit. Es gibt zu viele Splittergruppen, zuviel Leiden, zuwenig
Hoffnung auf Versöhnung. Eine ganze Generation von Kindern ist in Nordirland
mit der Gewalt groß geworden. Mehr erwarten sie nicht vom Leben. Für sie ist
der «ruhmreiche Krieg» Alltagsroutine. Etwas, das man tut. Eine Art, die Zeit
zu füllen, bis man stirbt, oder vielmehr bis ein Passant stirbt, der sich
zufällig am falschen Tag zum falschen Zeitpunkt auf der falschen Straße
befindet.
Mit weiteren zwei Pfund Gewicht
durch die Kanone in meiner überfüllten, viel zu schweren Umhängetasche war ich
auf jede Begegnung mit dem Bostoner Zweig der IRA vorbereitet. Aber ob ich nach
Hunderten von Jahren der Unterdrückung damit Eindruck machen würde?
Ich hielt auf dem Weg an einem
Getränkeladen und tätigte die Art von Billig-Whiskey-Kauf, bei dem der junge
Verkäufer nur noch die Augenbrauen hochziehen konnte. Ich kannte Pats
Geschmack.
Der alte Mann hatte sich keine
goldene Nase beim Taxifahren verdient. Die Adresse, die ich aufspüren mußte,
lag in einer Gegend, aus der die Leute flohen, wenn sie konnten. Pats Apartment
war auf der zweiten Etage eines überaus schmalen, schäbigen dreistöckigen
Gebäudes in einem Häuserblock, der bessere Tage gesehen hatte. Von außen war
das Gemäuer grau, aber es ließ sich kaum sagen, ob das der beabsichtigte
Farbton oder nur die Folge jahrzehntelanger Sonneneinstrahlung und mangelnder
Pflege war. Kein Busch, kein Strauch. Statt eines Rasens häßliche
Queckenbüschel. Die Balkone an den beiden obersten Stockwerken hingen durch.
Ein einsamer Gartenstuhl thronte auf der Vorderveranda. Der verblaßte,
einstmals schreiend gelb, blau und rot gestreifte Sitz war kraftlos
durchgesackt. Ein abgerissener Stoffstreifen schleifte auf dem Boden.
Einer plötzlichen Eingebung
folgend langte ich tief in meine Umhängetasche und wühlte darin, bis ich auf
die goldene Nadel mit den GBA-Initialen stieß, die ich in Eugenes Spind
gefunden hatte. Ich hielt sie ins Licht. Sie war verkratzt und ein wenig
verbogen. Ich steckte sie mir an den Kragen meiner Bluse.
Patrick Day O’Grady, das war
mein Mann. Unter dem verbeulten Namensschild war ein Klingelknopf, aber die Tür
zum Treppenhaus war nur angelehnt, eine kaputte Holzschindel hielt sie offen,
und so ging ich einfach zum zweiten Stock hoch und klopfte an die Tür. Ich
konnte eine Fernsehstimme hören,
Weitere Kostenlose Bücher