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Carolin - GesamtWerk

Carolin - GesamtWerk

Titel: Carolin - GesamtWerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Bruno Greulich
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und gar nichts mit ihr zu tun habe, sie eine reine Schöpfung seiner Fantasie sei, fern der Wirklichkeit.
    Am gleichen Abend noch kam eine E-Mail von ihm an. Die Fantasie, so schrieb er, liege mitunter gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt und sei manchmal schwer bis gar nicht von ihr zu trennen. Sie könne das selbst ausprobieren, nämlich am Freitagabend um einundzwanzig Uhr. Zu dieser Zeit erwarte er sie im »Moskito«. Sie solle genauso gekleidet sein wie die Carolin der Geschichte. — War das sein Ernst? Das »Moskito« war jene Kneipe, in der sich die fiktive Carolin mit dem fiktiven Simon getroffen hatte. Sollte die Wirklichkeit tatsächlich zur Schöpfung der Fantasie geraten? Könnte sie das tun, wollte sie es, wäre es gut? Immer wieder las sie den Termin, fest brannte er sich in ihr Gedächtnis ein. Und sie sollte so gekleidet sein wie das Mädchen der Geschichte? Tief in ihrem Innern regte sich ein wohlig warmer Kitzel.
    Sie besaß kein rotes Kleid, musste erst eins kaufen, stöberte einige Kaufhäuser und Boutiquen durch, bis sie endlich eines fand, das dem der Geschichte ähnelte. Es war ärmellos, wurde von dünnen Trägern gehalten, schmiegte sich schmeichlerisch eng an die Haut und reichte bis zu den Knien. Ein hoher Seitenschlitz zeigte viel Bein, das miederartige Oberteil war unter dem Busen abgesetzt wie ein BH, hob die Brüste an, ließ sie drall erscheinen, vom tiefen Dekolleté offenbart. Noch nie hatte sie ein solch gewagtes Kleid getragen, es stellte sie zur Schau, sie hätte es am liebsten gleich anbehalten, noch aber war seine Stunde nicht gekommen. Rote Schuhe mit dünnen hohen Absätzen hatte sie schneller gefunden, ebenso halterlose schwarze Strümpfe mit Spitzensaum, mehr brauchte sie nicht. Zu Hause las sie Simons Geschichte zum wiederholten Male, betrachtete sich das Kleid, das über dem Bügel vor dem Schrank hing, ein Versprechen und eine Herausforderung, und wieder regte sich ein warmes Kribbeln, bang und voller Erwartung.
    Viel zu langsam vergingen die Tage im öden Büro und viel zu schnell, Ungeduld und Bangen lösten sich ab, gehörten zusammen wie Traum und Wirklichkeit, dann war Freitagabend. Sie nahm eine Dusche, streifte die zarten Strümpfe über, zog das Kleid an, schminkte sich sehr dezent und tupfte einen winzigen Tropfen ihres exotisch dunklen Parfüms an den Hals, bürstete noch einmal das schulterlange dunkle Haar und betrachtete sich prüfend im Spiegel. Ob sie Simon gefallen würde? Jedenfalls entsprach sie dem Vorbild der »anderen Carolin«, ohne Höschen und BH unter dem Kleid. Noch nie hatte sie das Haus so verlassen, fast kam sie sich vor wie völlig nackt, war beim kurzen Weg zum Auto froh, keinem Nachbarn zu begegnen.
    Das Moskito lag in einer Seitenstraße fast im Zentrum der verschlafenen Stadt und sie fand ganz in der Nähe einen Parkplatz. Zögernd ging sie zur gläsernen Eingangstür. War sie denn verrückt geworden? Warum tat sie, was dieser Mann von ihr wollte? Wäre es nicht besser, umzukehren und wieder nach Hause zu gehen? Als hätte sie keine andere Wahl, trat sie ein. Dicker Qualm hing in der Luft, viele Leute befanden sich in der Kneipe, die zwischen den Zeiten schwebte und halb noch der Vergangenheit angehörte; aus den Lautsprechern klang ein rauer Blues, Altfreaks kamen hierher, Punker, Künstler, all jene, die keinen Platz in der Welt fanden; die Mädchen trugen Jeans und schlichte Tops, Carolins rotes Kleid fiel auf, jeder, so dachte sie, könne hindurchschauen und sehen, wie frivol sie zu ihrem Rendezvous erschien. Simon saß an einem der runden Tische weiter hinten und sie musste den ganzen Raum durchqueren auf den ungewohnt hohen Absätzen, wurde von einem erfreuten Lächeln begrüßt und nahm bei ihm Platz. Auch Simon hatte sich adrett zurechtgemacht, so weit ihm möglich jedenfalls, er trug eine enge schwarze Hose, ein schwarzes T-Shirt und ein rotes Sakko, war frisch rasiert, duftete nach Aftershave und vor allem nach Tabaksqualm, wie fast immer hielt er eine selbst gedrehte Zigarette zwischen den Fingern, auf dem Tisch lag sein lederner Tabaksbeutel. An einer harmlosen Konversation war er nicht interessiert. Forschend richtete sich der Blick seiner graugrünen Augen auf sie und leise fragte er, ob sie sich ans Vorbild seiner Carolin gehalten habe.
    Sie nickte stumm und er lächelte, als habe er nichts anderes erwartet. Wer war eigentlich die richtige Carolin, die seiner Geschichte, die ihr als Vorbild diente, oder sie, aus

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