Caroline und der Bandit
des
Pfarrers.
»Caroline!«
sagte die alte Dame, und ihr Ton verriet, daß sie wohl kaum erstaunter gewesen
wäre, wenn Mary Todd Lincoln persönlich vor ihr gestanden hätte.
Caroline
neigte leicht den Kopf. »Wie geht es Miss Ethel?« fragte sie und begann die
Stufen hinaufzugehen.
Einen
Moment lang sah es so aus, als wollte Mrs. Penn sie aufhalten. Ihr hageres
Gesicht drückte tiefe Mißbilligung aus. »Es ist gut, zu wissen, daß Sie sich
Sorgen machen«, bemerkte sie spitz.
Caroline
brachte weder die Geduld noch die Bereitschaft auf, Mrs. Penn ihre lange
Abwesenheit zu erklären. Sie ging an der Frau vorbei und betrat Miss Ethels
Zimmer.
Die alte
Dame lag mit glanzlosen, leeren Augen auf dem Rücken. Eine Hälfte ihres
Gesichts schien tief unter der anderen zu liegen, und in einem Mundwinkel
sammelte sich Speichel.
Caroline
holte eins von Miss Ethels kostbaren Spitzentaschentüchern und tupfte der
alten Dame sanft den Mund ab. Dann küßte sie sie auf die Stirn und setzte sich
auf einen zierlichen Sessel neben ihrem Bett.
»Ich bin
es, Ethel«, flüsterte sie und nahm die schmale leblose Hand. »Caroline. Ich bin
wieder zu Hause, mir ist nichts geschehen. Und es tut mir so furchtbar leid,
daß ich soviel Leid verursacht habe.«
Miss Ethel
sagte nichts, aber ihre Finger bewegten sich leicht gegen Carolines Handfläche.
Ein
Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Sie drückte Miss Ethels Hand an ihre Stirn
und weinte um alles, was nie wieder sein konnte. Irgendwann verstummte sie,
obwohl sie tief in ihrem Innersten noch immer Höllenqualen litt. Sie stand auf
und bürstete Miss Ethels ergrautes Haar, wechselte ihr Bettjäckchen und las ihr
aus einem Gedichtband vor, der neben ihrem Bett gelegen hatte.
Das Buch
war stark abgegriffen, denn Miss Ethel liebte Poesie und mußte es oft gelesen
haben. Als Caroline das Buch zuklappte und aufstand, um hinauszugehen, entdeckte
sie eine Träne auf Miss Ethels Wange.
Ihre Lippen
formten einen Ton. »Car ... Car ...«, wisperte sie.
»Ich bin
hier«, sagte Caroline unter Tränen.
»Li
...li«, brachte Miss Ethel mühsam hervor. »Li-li ...«
Caroline
stockte der Atem. Es klang fast, als spräche Miss Ethel von Lily, ihrer
Schwester! »Lily?« flüsterte Caroline verwirrt.
Aber die
Anstrengung war zuviel gewesen für Miss Ethel; sie ließ den Kopf sinken und
schloß die Augen.
Caroline
deckte sie behutsam zu und verließ das Zimmer, um zu Guthrie hinunterzugehen.
Er war in der Küche und trank Kaffee aus einer zierlichen Porzellantasse, die
lächerlich klein wirkte in seiner Hand.
»Wie geht
es ihr?« fragte er, stellte die Tasse beiseite und legte beide Hände um
Carolines rundliche Taille.
»Ich glaube,
sie wird bald sterben«, antwortete Caroline betrübt.
Guthrie zog
sie an sich. »Das tut mir leid«, sagte er rauh.
»Ich möchte
Miss Phoebes Grab aufsuchen, bevor es dunkel wird«, sagte Caroline und entzog
sich ihm. »Miss Ethel hat übrigens von Lily gesprochen.«
Seine
traurige Miene hellte sich etwas auf. »Von deiner Schwester?«
»Ich glaube
ja«, murmelte Caroline. »Zumindest hoffe ich es.« Sie ließ Guthrie stehen, nahm
einen Schal und legte ihn um ihre Schultern. »Ich bin bald zurück.«
»Möchtest
du nicht, daß ich dich begleite?«
Trotz ihrer
Liebe zu Guthrie wollte Caroline ihren Schmerz und ihre Schuld ganz alleine mit
sich abmachen. »Nein«, erwiderte sie leise und ging hinaus.
Miss Phoebe
war auf dem Presbyterianischen Friedhof begraben. Ein kleiner Kastanienbaum
war gepflanzt worden, um ihrer letzten Ruhestätte Schatten zu vermitteln.
Caroline
las die Inschrift auf dem Grabstein mit trockenen, geschwollenen Augen.
Phoebe
Elliott Maitland
Meine
geliebte Schwester
Geboren
am 5. April 1800
Gestorben
am 30. Juni 1878
»Es tut
mir so leid«,
flüsterte Caroline.
In diesem
Augenblick kam Pastor Penn aus dem nahen Pfarrhaus.
»Hallo,
Caroline«, sagte er freundlich und trat zu ihr ans Grab.
Caroline
schluckte. »Was ist mit ihr geschehen?«
Pastor Penn
seufzte. »Es war ihr Herz. Es blieb eines Tages einfach
stehen.«
»Wegen mir.
Sie hat sich aufgeregt über mein Verschwinden!«
»Natürlich
hat es sie aufgeregt«, gab der Priester zu. »Aber Miss Phoebe hatte schon seit
Jahren Herzprobleme. Das muß Ihnen doch bekannt gewesen sein.«
Caroline
hatte es gewußt, aber immer vorgezogen, nicht daran zu denken. »Haben sie meine
Briefe nicht erhalten?«
»Ein
Telegramm, glaube ich, aber Miss Ethel und Miss Phoebe glaubten,
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