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Carpe Somnium (German Edition)

Carpe Somnium (German Edition)

Titel: Carpe Somnium (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andy Marino
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Begriffsvermögens davon, wie winzige Fische vor einem herannahenden Hai auseinanderstieben. Ein immerwährender Mitteilungszyklus einer vollkommen vernetzten Menschheit, und er verpasste ihn! Genau jetzt, in diesem Moment wurde sicher
irgendwas
Interessantes oder Lustiges oder Ergreifendes in den Stream eingespeist, von einem seiner potenziellen Freunde in genau dieser Straße, und er konnte nichts weiter hören als dumpfes Gemurmel. Er folgte Takashi an einer Gruppe durchsichtiger Männer vorüber, die auf einer altmodischen kleinen Veranda hockten. Überall um ihn herum ging die geisterhafte Parade ununterbrochen weiter. So viele User, und dabei war das nur ein klitzekleiner Teil der eingeloggten Bevölkerung. Er könnte hier ein Dutzend Leben verbringen und wäre immer noch nicht allen begegnet. Es würde immer Ereignisse geben, von denen er ausgeschlossen blieb. Die Idee eines permanenten Log-ins klang zunehmend vernünftig. Wieso nicht einfach hierbleiben? Er könnte Millionen neuer Freundschaften schließen und alles vergessen, seinen Vater, seinen Bruder, Magnus, Ivor.
    Er könnte Ambrose vergessen.
    Er blieb stehen und starrte senkrecht nach oben. Das Dach eines weiß glänzenden Atmoscrapers stach scharf einen rechten Winkel aus dem wolkenlos blauen Himmel. Er bemerkte die knackige Kontur der Ränder, den scheinbar kaum vorhandenen Abstand zwischen sich selbst und dem Ende des Blocks, zwischen Erde und Himmel. Keinerlei Dunstschleier, nur perfekte, hundertprozentige Sehschärfe und die klarsichtige Wohltat, nach einem langen Tag nach Hause zu kommen. Er nahm einen tiefen Atemzug: Die Luft roch wie saubere Laken. Er wusste, dass Takashi für ihn ein Sprungbrett sein könnte zu Hunderten neuer Freundschafts-Threads, und von dort zu Tausenden, Millionen, Milliarden. Abermals atmete er tief ein und aus. Mit einiger Mühe verdrängte er den Gedanken und konzentrierte sich darauf, mit Takashi Schritt zu halten.
    Hinter ihnen schlängelte sich der Hund zwischen den Geisterwesen hindurch, folgte, die Nase am Gehsteig, ihrer Spur.

7

Flucht der Wolken-Kinder
    Das Grollen der Geißel ließ Mistletoes Zähne klappern, sodass sie sich in die Zunge biss. Sie schmeckte rostiges Blut.
    Lauf
, dachte sie. Doch durch die Erschütterungen in dem Raum, ihrem Kopf, ihrem Bauch stand sie da wie angewurzelt, wie der Baumstamm aus Drähten, in dem Ambrose gefangen war. Zu wissen, was auf einen zukam, machte das Geräusch nicht erträglicher. So fest sie konnte, schloss sie die Augen, presste die Kiefer aufeinander und kämpfte gegen den beängstigenden Drang, sich die Finger geradewegs durch die Ohren und mitten ins Hirn zu rammen. Stattdessen drückte sie mit aller Kraft ihre Handflächen auf die Ohren, bis die Stille in die U-Bahn-Tunnel zurückkehrte und auch das letzte der Nachbeben verebbte.
    Sie öffnete die Augen.
    Die beiden Brüder hatten sich nicht vom Fleck gerührt und warteten nun geduldig darauf, dass sie sich erholte. Ivor streckte beiläufig den Polizei-Taser in ihre Richtung, als würde er in einem Staffelrennen den Stab weiterreichen. Irgendwo hinter ihr lehnte Nelson an dem Stapel aus Mikrowellen. Weit weg? Die Geißel hatte ihren Orientierungssinn mächtig durchgeschüttelt. Mistletoes Augen bewegten sich ruckartig vom winzigen Prisma an der Spitze des Tasers zu einem braunen Muttermal direkt neben Ivors Nase und von dort weiter zu Magnus, der noch immer zu Boden starrte und unter ihrem giftigen Blick zu schrumpfen schien.
    Sie spuckte einen Mundvoll Blut. Ivor sah zu, wie es als zersprenkelter Klecks zwischen ihnen auf dem Boden landete. Der schwarze Hund trottete zu dem roten Fleck, senkte seinen gehörnten Schädel und schnüffelte. Mistletoe schaute flüchtig zu Ambrose hinüber, dessen glasige, blicklose Augen sie an die uralte Kohlkopfpuppe im Hinterzimmer von Jiris Laden erinnerten.
    »Was haben Sie mit ihm gemacht?«
    »Es sieht dramatischer aus, als es tatsächlich ist, Anna«, sagte Magnus, der unvermittelt sein liebenswürdiges Altherrenlächeln wiederfand.
    Unwillkürlich stemmte sie die rechte Hand in die Hüfte.
    »Haben seine alte ID gelöscht«, sagte Ivor. »Neue Implantate, alles frisch hartkodiert. Komplettes Neuer-User-Basispaket. In Unison kann ihn niemand als Ambrose identifizieren. Wenn du jetzt bitte so freundlich wärst, ich hätte gern, dass du dich hierher stellst.« Ivor gestikulierte mit dem Schlagstock in Richtung der Tastaturenriege.
    »Ich will ihn zurück.«
    Ivor schüttelte

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