Carpe Somnium (German Edition)
gefaltet. Wachmänner in UniCorp-Windjacken patrouillierten in den Gängen. Durch die oberen Ebenen schwirrten kleine KI -Drohnen.
»Was ist das für ein Ort?«
»Flimmerhalle Neun. Na ja, du zahlst und darfst dich dafür, solang’s dir gefällt, in eins dieser flauschigen Bettchen legen, während du in Unison bist. Auf die Art bist du geschützt. Keiner schneit rein und kommt dir blöd, wenn du für ’n paar Wochen drinbleiben willst.«
»Dann sind all diese Leute also eingeloggt.«
»Und genießen grad fleißig BetterLife.«
Sie sahen so friedlich aus. So ganz anders als Ambrose, der im Innern des Drahtbaumstamms steckte mit all den um ihn herumrasenden Rohdaten-Projektionen.
Seltsam
, dachte sie.
Ich bin oben in seiner Welt und er ist unten in meiner.
Sie jagten auf der anderen Seite des Kuppeldachs hinunter und fädelten sich für ein paar Blocks in die obere Verkehrsader ein, ehe sie erneut auf die untere Straßenebene abtauchten. Hier bummelten einige Fußgänger unter einem pyramidenförmigen Schild umher, das
Getränke-Specials mit Studenten-
id versprach. Der Fahrer riss das Steuer nach links und raste in eine schmale Gasse. An deren Ende gelangten sie hinaus auf einen weiten Platz, umgeben von Atmoscrapern und erleuchtet von Abertausenden weißer Glühlämpchen, die in der Luft hingen wie winzige Sterne.
Das Taxi hielt an. Wo man auch hinsah, überall Grün – üppige Hecken und Kiefern, im Vergleich zu denen die farblosen subsphärischen Sträucher geradezu mickrig wirkten. Hier und dort ragte ein steinernes Dach über das Laub.
»Da sind wir, Kid.«
Sie schaute aus beiden Fenstern. »Wo?«
» ESCU .«
»Sieht aus, als wär’s noch nicht fertig gebaut.«
Er zuckte die Schultern. »Hab das Ding nicht entworfen, okay?« Er legte seine geöffnete Hand auf den Sitzteiler und wackelte mit den Fingern. Sie ließ die Halskette in seine Handfläche fallen, er hängte sie an den Rückspiegel.
Mit einem Klick öffnete sich die Tür, und Mistletoe trat hinaus auf das schwammweiche Gras. Das Taxi schoss in die Nacht davon. Sie reckte den Arm nach oben und berührte eins der tief hängenden Lämpchen, einen hellen Fleck am Nachthimmel, nicht größer als ihr Daumennagel. Ein schwaches Klingeln ertönte. Hoch darüber antwortete ein zweites. Sie konnte nicht aufhören hinaufzustarren. Kein Sphärenschild! Ihr Herz klopfte. Ihr Magen verdaute sich selbst. Ob irgendwelche der Pflanzen hier essbar waren? Sie arbeitete sich durch das Gestrüpp in der Hoffnung, auf einen Weg zu stoßen. Als die Hecken um sie herum immer dichter wurden und knorrige Wurzeln anfingen, nach ihren Zehen zu greifen, gab sie auf, setzte sich unter einen Baum und presste ihren Rücken gegen die raue Rinde. Behutsam schaukelte sie hin und her und lauschte auf das sanfte Klingeln der Lämpchen.
Kurz darauf schon lag sie da, Augen geschlossen, Atem regelmäßig. Sie war erschöpft. Die merkwürdige neue Welt aus Licht und Geschwindigkeit zog sich in weite Ferne zurück und verschwand.
Mistletoe schlief, allein in einem stillen Wald mitten in der geschäftigsten Stadt der Welt.
Irgendwann tippte ein Finger ihr auf die Schulter.
Wach auf.
Das Tippen wurde fordernder.
Wach auf.
Sie machte einen Satz rückwärts gegen den Baum und schwang den Disruptor in einem wilden Bogen zur Seite, während sie noch den Schlaf wegblinzelte. Strahlendes Licht sickerte durch die Baumkronen und legte sich wässrig auf das erschrockene Mädchen, das sie wachgerüttelt hatte. Es war älter als Mistletoe und trug einen langen Rock, der sie an Ambroses Anzug erinnerte, in der Art, wie der Stoff in einer unmerklichen Brise leicht zu flattern schien und man beinahe, aber nicht ganz hindurchsehen zu können glaubte. Um ihre Schulter hing eine perlenverzierte Handtasche, die solider wirkte als der Rock. Sie hatte die Hände hoch in die Luft gestreckt.
»Was willst du?«, fragte Mistletoe heiser.
»Gucken, ob du okay bist. Das ist alles. Ich schwör’s auf meine ID .«
Mistletoe wurde klar, wie sie aussehen musste mit ihren schmutzigen Scooter-Klamotten und dem dreckverkrusteten blauen Zopf. Sie straffte ihre Haltung und räusperte sich.
»Mir geht’s gut.« Sie machte eine Show daraus, den Disruptor zu sichern und in ihrem Ärmel verschwinden zu lassen. »’tschuldigung.«
Das Mädchen ließ eine Hand sinken und nestelte mit der anderen nervös an einer Strähne ihres langen roten Haars. »Also, bist du auf der Suche nach der Ausflugsgruppe, oder …«
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