Carre, John le
mochten. Aber als sie den Brief sah, die Anfangsworte und den
verzweifelten Ton wiedererkannte, wurde sie jeglichen Betrugs unendlich müde,
müde auch allen Argwohns und müde der Versuche, Böses zu sehen, wo sie sich aus
tiefstem Herzen Gutes zu sehen wünschte. Wieder hörte sie die Stimme des dicken
Mannes, ein korrekt erlerntes, aber leicht angerostetes Französisch, und es
erinnerte sie an halbvergessene Schulgedichte. Und wenn, was er sagte, Lüge
war, so war es die gerissenste Lüge, die sie je im Leben gehört hatte.
»Der Magier ist tot, Madame«, sagte
er, und sein Atem beschlug das Guckloch. »Ich komme aus London, um Ihnen an
seiner Statt zu helfen.«
Noch Jahre danach und vermutlich
sein ganzes Leben lang schilderte Peter Guillam immer wieder, mit wechselnder
Offenheit, wie er an jenem Abend nach Hause gekommen war. Er wies jedesmal
besonders darauf hin, daß die Umstände außergewöhnlich gewesen waren. Er hatte
- erstens - schlechte Laune gehabt, schon den ganzen Tag. Zweitens - sein
Botschafter tadelte ihn bei der wöchentlichen Mitarbeiterbesprechung vor
versammelter Mannschaft wegen einer unziemlich leichtfertigen Bemerkung über
die britische Zahlungsbilanz. Er war - drittens - erst seit kurzem verheiratet
und seine sehr junge Frau erwartete ein Kind. Ihr Telefonanruf kam - viertens -
wenige Minuten, nachdem er ein langes und höchst langweiliges Fernschreiben des
Circus entschlüsselt hatte, worin er zum fünfzehntenmal erwähnt wurde, auf
französischem Boden keine - wiederhole, keine - Operationen ohne
vorherige schriftliche Genehmigung der Londoner Einsatzzentrale zu unternehmen.
Zudem - fünftens - litt tout Paris wieder einmal unter der periodisch
auftretenden Kidnapping-Panik. Und schließlich galt der Posten des
Circus-Residenten in Paris allgemein als vorletzte Ruhestätte für pensionsreife
Funktionäre, denn was dort geboten wurde, beschränkte sich im Wesentlichen auf
endlose Dejeuners mit einem Sammelsurium sehr korrupter, sehr langweiliger
Chefs rivalisierender Geheimdienste, die mehr Zeit darauf verwendeten, sich
gegenseitig zu bespitzeln, als die mutmaßlichen Feinde auszuspähen. Alle diese
Faktoren, so betonte Guillam später ausdrücklich, seien zu berücksichtigen,
ehe man ihn der Unbeherrschtheit bezichtige. Guillam war übrigens
väterlicherseits französischer Abstammung, doch in seiner sportlichen Erscheinung
dominierte die englische Hälfte; er war schlank und sah recht gut aus, aber er
ging auch - wenngleich er unermüdlich dagegen ankämpfte - auf die Fünfzig zu,
eine Weiche, die nur wenige Außenagenten überfahren, ohne aufs Abstellgleis zu
geraten. Er fuhr einen brandneuen deutschen Porsche, den er, einigermaßen schlechten
Gewissens, mit Diplomatenrabatt gekauft hatte und zur schärfsten Mißbilligung
des Botschafters auf dem Gesandtschaftsparkplatz abstellte.
Damals also rief Marie-Claire
Guillam ihren Mann punkt sechs Uhr an, gerade, als Guillam seine Codebücher wegschloß.
Guillam hatte zwei Telefonanschlüsse, einen, der theoretisch operativen
Anrufen diente und direkt war. Der zweite ging über die Hausvermittlung.
Marie-Claire rief über die direkte Leitung an, was, wie sie mit ihrem Mann
übereingekommen war, äußersten Notfällen vorbehalten bleiben mußte. Seit
einiger Zeit bedienten beide sich des Englischen, damit Marie-Claire es
fließender sprechen lerne, jetzt aber sprach sie französisch, ihre
Muttersprache.
»Peter«, begann sie.
Er hörte sofort die Erregung in ihrer
Stimme.
»Maire-Claire? Was ist los?«
»Peter, hier ist ein Herr. Er
möchte, daß du sofort kommst.«
»Wer?«
»Das kann ich nicht sagen. Es ist
wichtig. Bitte komm sofort nach Hause«, wiederholte sie und legte auf.
Guillams Bürovorsteher, ein Mr.
Anstruther, hatte an der Tür zum Tresorraum auf ihn gewartet, als der Anruf
kam, denn Guillam mußte das Kombinationsschloß einstellen, ehe er und der
Bürovorsteher ihre Schlüssel betätigten. Anstruther sah durch die offene
Bürotür, wie Guillam den Hörer auf die Gabel knallte, und als nächstes sah er
den geheiligten persönlichen Schlüssel des Residenten, eine Art Symbol
seines Amtes, durch die Luft fliegen - ein weiter Flug, wohl an die fünfzehn
Fuß -, und wie durch ein Wunder gelang es Mr. Anstruther, den Schlüssel
aufzufangen: griff mit der linken Hand nach oben und schnappte ihn aus der
Luft, wie ein amerikanischer Baseball-Star; er würde es nie wieder
fertigbringen, und wenn er es hundertmal versuchte,
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