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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Smileys Leute oder Agent in eigener Sache (Smiley Bd 7)
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wer
draußen sei, und das erste, was sie sah, war ihre verblödete Concierge, ganz
nah, rund wie eine Zwiebel im verzerrenden Glas, mit grünem Haar vom
Widerschein der Keramikfliesen des Treppenpodests und einem gewaltigen
Gummigrinsen und einer Nase, die wie ein Entenschnabel vorsprang. Und der
Ostrakowa ging flüchtig durch den Kopf, daß die leichten Schritte von der
Concierge gestammt hatten - Leichtigkeit war, wie Schmerz und Freude, stets
eine relative Größe, abhängig vom Vorher und Nachher. Und als zweites sah sie
einen kleinen Mann im braunen Tweedmantel, der im Guckloch so kugelig war wie
das Michelin-Männchen. Und während sie ihn beäugte, nahm er einen Strohhut ab,
der geradewegs aus einem Roman von Turgenjew stammte, und hielt ihn seitwärts
an sich gepreßt, als werde die Nationalhymne seines Landes gespielt. Und sie
schloß aus dieser Geste, der kleine Mann wolle ihr sagen, er wisse, daß sie
sich am allermeisten vor einem überschatteten Gesicht fürchte und habe den Kopf
entblößt, um ihr gewissermaßen seine redlichen Absichten zu enthüllen.
    Seine Regungslosigkeit und sein
Ernst hatten etwas soldatisch Respektvolles und erinnerten sie, genau wie die
Stimme, wiederum an Ostrakow; mochte das Glas ihn zu einem Frosch verzerren,
seiner Haltung konnte es nichts anhaben. Auch die Brille erinnerte sie an
Ostrakow, eine Sehhilfe, so notwendig, wie die Krücke eines Invaliden. Das
alles gewahrte die Ostrakowa mit hämmerndem Herzen, aber sehr ruhigem Auge, bei
ihrer ersten langen Musterung, während sie die Waffe an die Tür und den Finger
an den Abzug preßte und überlegte, ob sie den Mann nicht sofort und auf der
Stelle, durch die Tür hindurch, erschießen solle -»Nimm das für Glikman, das für Ostrakow, das für Alexandra!«
    Denn in ihrem Argwohn hielt sie es
für möglich, daß man den Mann eben wegen seines menschlichen Aussehens gewählt
hatte; weil man wußte, daß auch Ostrakow diese Gabe besessen hatte, fett und
würdevoll zugleich zu sein.
    »Ich brauche keine Hilfe«, rief die
Ostrakowa schließlich zur Antwort und beobachtete schreckensstarr, welche
Wirkung diese Worte auf ihn haben würden. Doch während sie beobachtete,
beschloß die schwachsinnige Concierge, auf eigene Rechnung loszuplärren.
    »Madame, er ist ein Gentleman! Er
ist Engländer! Er sorgt sich um Sie. Sie sind krank, Madame, die ganze Straße
macht sich Ihretwegen Sorgen! Madame, Sie dürfen sich nicht länger so einschließen.«
Pause. »Er ist Arzt, Madame - nicht wahr, Monsieur? Ein berühmter Arzt für
Gemütsleiden!« Dann hörte die Ostrakowa das blöde Weib zischeln: »Sagen Sie's
ihr, Monsieur. Sagen Sie ihr, daß Sie Arzt sind!«
    Doch der Fremde schüttelte
ablehnend den Kopf und erwiderte:
    »Nein. Ich bin kein Arzt.«
    »Madame, machen Sie auf oder ich
hole die Polizei!« schrie die Concierge. »Eine Russin und sich so aufführen!«
    »Ich brauche keine Hilfe« , wiederholte die Ostrakowa jetzt bedeutend lauter.
    Aber sie wußte, daß sie nichts so
dringend brauchte wie Hilfe, daß sie ohne Hilfe nie imstande sein würde zu
töten, so wenig, wie Glikman je dazu imstande gewesen wäre. Auch nicht, wenn
sie den Teufel persönlich im Visier hätte, könnte sie das Kind einer Mutter
töten.
    Während sie weiter die Pistole im
Anschlag hielt, trat der kleine Mann langsam einen Schritt vor, bis sie im
Guckloch nur noch sein Gesicht, verzerrt, wie ein Gesicht unter Wasser, sehen
konnte; und sie sah zum erstenmal die Müdigkeit darin, die geröteten Augen
hinter den Brillengläsern, die schweren Schatten darunter; und sie spürte das
leidenschaftliche Interesse, das er an ihr hatte, und das nicht ihrem Tod galt,
sondern ihrem Überleben; sie spürte, daß sie in ein teilnehmendes Gesicht
blickte, aus dem das Mitgefühl nicht für immer verbannt war. Das Gesicht kam noch
näher, und das Schnappen der Briefklappe genügte, daß sie um ein Haar die Waffe
versehentlich abgefeuert hätte, und diese Tatsache erfüllte sie mit Entsetzen.
Sie hatte bereits das Zucken in ihrer Hand gefühlt und es gerade noch im
Augenblick der Ausführung gebremst; dann bückte sie sich, um den Umschlag
aufzuheben. Es war ihr eigener Brief, an den General adressiert - der zweite,
in dem stand »Jemand versucht, mich zu töten«, in Französisch geschrieben. Als
letzten hinhaltenden Widerstand schützte sie den Verdacht vor, der Brief könne
ein Trick sein, »sie« hätten ihn abgefangen oder gestohlen oder was Betrüger
sonst anstellen

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