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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Smileys Leute oder Agent in eigener Sache (Smiley Bd 7)
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beträchtlich
zugesetzt, er schwitzte. In all den Jahren, seit er George kannte, habe er ihn,
so sagte er später, nie so verschlossen, so erregt, so elliptisch, so
verzweifelt gesehen. Guillam schloß den Tresorraum wieder auf, codierte das
Fernschreiben, schickte es ab und wartete nur, bis die Empfangsbestätigung aus
London eingegangen war; dann holte er sich die Akte über Personalveränderungen
in der Sowjetbotschaft und blätterte die letzten Ausgaben der Beobachtungslisten
durch. Er mußte nicht lange suchen. Bereits die dritte Drucksache, Kopie nach
London, gab die gewünschte Auskunft. Kirow, Oleg, Zweiter Sekretär, Handel,
hier bezeichnet als »verheiratet, aber Ehefrau nicht en poste« , war vor
zwei Wochen nach Moskau zurückgekehrt. In der Spalte für verschiedene
Anmerkungen hatte die französische Verbindungs-Dienststelle eingetragen, laut
informierter sowjetischer Quellen sei Kirow »kurzfristig an das sowjetische
Außenministerium berufen worden, um dort einen überraschend freigewordenen
höheren Posten anzutreten«. Die üblichen Abschiedspartys hatten daher nicht
stattfinden können.
    In Neuilly wurden Guillams
Eröffnungen von Smiley mit tiefem Schweigen quittiert. Er wirkte nicht
überrascht, aber er wirkte wie von einem Schauder erfaßt, und als er
schließlich sprach -was er erst tat, nachdem sie alle drei im Auto saßen und in
Richtung Arras brausten -, hatte seine Stimme einen fast hoffnungslosen
Klang. »Ja«, sagte er - als seien Guillam die Zusammenhänge längst bekannt.
»Ja, genau das würde er natürlich tun, nicht wahr? Er würde Kirow unter
dem Vorwand einer Beförderung zurückrufen, damit er auch ganz gewiß käme.«
    So hatte Georges Stimme bisher nur
ein einzigesmal geklungen, sagte Guillam, der es im Nachhinein mit Sicherheit
zu wissen glaubte - in jener Nacht nämlich, in der er Bill Haydon als Karlas
Maulwurf und zugleich als Anns Liebhaber entlarvt hatte.
     
    Auch die Ostrakowa hatte
rückblickend kaum eine zusammenhängende Erinnerung an diese Nacht, weder an
die Autofahrt, auf der sie endlich Schlaf fand, noch an das geduldige, aber
hartnäckige Verhör, dem der pummelige Mann sie unterzog. Vielleicht hatte sie
überhaupt vorübergehend ihre Wahrnehmungskraft - und entsprechend auch das
Erinnerungsvermögen - eingebüßt. Sie beantwortete seine Fragen, sie war ihm
dankbar, sie gab ihm - ohne die Zusätze oder »Ausschmückung« - dieselbe
Information, die sie auch dem Magier gegeben hatte, obgleich der dicke Mann das
meiste bereits zu wissen schien. »Der Magier«, sagte sie einmal. »Tot. Mein
Gott.«
    Sie fragte nach dem General,
achtete jedoch kaum auf Smileys unverbindliche Antwort. Sie dachte, Ostrakow,
dann Glikman und jetzt der Magier - und nie sollte sie seinen Namen erfahren.
Ihr Gastgeber und dessen Frau waren gleichfalls freundlich zu ihr, prägten sich
jedoch ihrem Bewußtsein nicht ein. Es regnete, und sie konnte die fernen Felder
nicht sehen.
    Gleichwohl begann die Ostrakowa
allmählich, während Woche um Woche verging, sich in ihrem Winterquartier
wohlzufühlen. Die große Kälte kam früh in diesem Jahr, und sie ließ sich behaglich
einschneien; sie machte kurze Spaziergänge, dann sehr ausgedehnte, ging früh
zu Bett und sprach wenig, und im gleichen Maß, wie ihr Körper sich erholte,
genaß auch ihr Geist. Anfangs herrschte verzeihliche Wirrnis in ihrem Kopf, und
sie ertappte sich dabei, daß sie in denselben Ausdrücken an ihre Tochter
dachte, mit denen der rothaarige Mann sie beschrieben hatte: staatsfeindliche
Ausreißerin und starrsinnige Rebellin. Dann dämmerte ihr langsam die Logik der
ganzen Geschichte. Irgendwo, so argumentierte sie, gab es die echte Alexandra,
die lebte und ihr Dasein führte, wie vordem. Oder, auch wie vordem, nicht
lebte. In jedem Fall bezogen sich die Lügen des rothaarigen Mannes auf ein
ganz anderes Mädchen, eines, das »sie« eigens für ihre Zwecke erfunden hatten.
Die Ostrakowa brachte es sogar fertig, sich mit dem Gedanken zu trösten, daß
ihre Tochter, wenn überhaupt, in völliger Unkenntnis dieser Machenschaften
lebte.
    Vielleicht bewirkten
die Wunden, die ihr an Geist und Körper zugefügt worden waren, was jahrelange
Gebete und Ängste nicht vermocht hatten, und befreiten sie von ihren
Schuldgefühlen gegenüber Alexandra. Sie trauerte aus tiefstem Herzen um
Glikman, sie war sich klar darüber, daß sie allein in der Welt stand, doch auf
dem winterlichen Land war ihr diese Einsamkeit nicht unlieb. Ein

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